Christian Dierig zur Textilindustrie und zum Bereich Bettwäsche
Unsere Industrie ist leider ausgewandert
Zunächst darf ich der Haustex sehr herzlich zum 60-jährigen Jubiläum gratulieren - in dieser schwierigen Industrie wünschen wir mindestens noch einmal 60 Jahre oben drauf! Ebenfalls nutzen wir den Geburtstag, um uns bei Ihnen zu bedanken, da Sie ja mittlerweile das letzte Sprachrohr unserer Industrie sind, vor allem da die Zeitschrift "Textil-Wirtschaft" beschlossen hat, über unsere Branche nicht mehr zu berichten. Glück auf also und ein herzliches Dankeschön.
Was also ist in den letzten 60 Jahren passiert? Von 1949 bis 2009 hat die Textilindustrie einen Aufstieg wie Phönix aus der Asche genommen, um dann leider wieder darin zu versinken. Diese traurige Betrachtung der 60 Jahre zeigt nicht den großartigen Weg, den die Industrie gegangen ist, aber leider ihren Zustand heute. In diesen sechs Jahrzehnten war die Textilindustrie in vielen Jahren noch bis spät in die 80er Jahre eine der größten Industrien in diesem Land - viel größer als Stahl und Kohle zusammen und leider viel weniger beachtet. Unsere Industrie hatte Millionen Arbeitsplätze, die mittlerweile auf eine kleine fünfstellige Zahl geschrumpft sind. Wir beschäftigten Frauen in Randgebieten ebenso wie die ersten Gastarbeiter. So hat das Haus Dierig / Fleuresse Anfang der 60er Jahre mit ausgesendeten Bussen in Griechenland Mitarbeiter rekrutiert. Unsere Industrie, die sowohl in der Technik als auch im Sozialwesen immer wieder Vorreiter in diesem Land war, die die industrielle Revolution bereits im 19. Jahrhundert vorangetrieben hat und die für Wohlstand zu Beginn des 19. Jahrhunderts gesorgt hat, ist leider ausgewandert.
Nun könnte man die Frage stellen, warum dies so ist und ob man das hätte verhindern können. Klar ist, dass diese Industrie immer eine arbeitsintensive war, wie bei alten Industrien eben so üblich. Der ganze Wettlauf mit der Kapitalintensivierung in Spinnerei und Weberei ist über Jahrzehnte diskutiert worden, insbesondere mit unserem Verband und dem Weltwirtschaftsinstitut in Kiel. Zu guter Letzt hat das Weltwirtschaftsinstitut leider Recht behalten, indem man gemäß der Faktor-Proportionen-Theorie argumentiert hat, dass die Industrien immer dahin wandern, wo sie den notwendigsten Produktionsfaktor am günstigsten bekommen. Für unsere Industrie hat dies geheißen, dass wir schnell in preiswertere Lohnländer gedrängt worden sind. Allerdings hat der Staat dies auch nicht verhindern wollen; Bundeskanzler Schmidt hat es sogar unterstützt. In Deutschland war die Stahl- und Metallindustrie immer mehr im Fokus als die Textilindustrie, was sich ja auch heute wieder ganz deutlich zeigt.
Dass der Abbau von Arbeitsplätzen in unserer Industrie auch immer wieder als Fehler gegeißelt worden ist, ändert nichts daran, dass die verlorenen Arbeitsplätze nun nie mehr nach Deutschland zurückkommen. Dies ist bedauerlich. Allerdings ist dies natürlich kein Einzelfall. Das große Textil- und Modeland Frankreich liegt ebenso darnieder wie die großen Webereien in Manchester oder ganz England. Der kometenhafte Aufstieg mancher Länder wie Portugal und Spanien geht mittlerweile auch wieder bergab. Große Teile Europas müssen ebenso wie wir nun den Schwund der Textilindustrie hinnehmen - viele der asiatischen Länder freuen sich über deren Entstehen. Hier werden zahlreiche Leute in Arbeit und Brot kommen, die dann eines Tages, so hofft man in der Politik zumindest, die höher entwickelten Wirtschaftsgüter aus Europa kaufen. Ob dieser Entwicklungswettlauf langfristig aufgeht, ist eine Frage, die ebenfalls seit Generationen diskutiert wird. Schaut man sich die englische Kolonialpolitik an, wo solche Dinge auch schon diskutiert wurden, und überprüft, was die alten Kolonialstaaten nun bei den Engländern kaufen, so kann man die Wirklichkeit mit der Theorie vergleichen.
Wenngleich der Rückblick in den 60 Jahren auf die Entwicklung unserer Industrie eher wehmütig ausfallen muss, so hat es diese Industrie doch auch verstanden, den Strukturwandel als eine der Allerersten zu meistern, zumindest die Unternehmen, die übrig geblieben sind. In der Regel sind dies Bekleidungsunternehmen, die zuerst unter Anpassungsdruck standen, und Textilindustrien, die Produktionen verlagern konnten und nur bestimmte Stufen hier im Inland gehalten haben. Es gibt also immer noch ein großes Angebot an Haus- und Heimtextilien, die in diesem Land "erdacht" und vermarktet werden. Das sind Ihre Kunden, und ich wünsche der Haustex, dass diese auch noch lange bleiben.
Bereits in den 50er Jahren haben viele Textilunternehmen erkannt, dass die Schaffung von Marken eine ganz wesentliche Voraussetzung ist, um in den Köpfen der Endverbraucher verankert zu sein. So hat die Firma Dierig vor gut 60 Jahren die Marke fleuresse ins Leben gerufen, die bis heute eine der führenden deutschen Marken in der Bettwäsche ist. Bereits damals war klar, dass der Preiskampf nur gewonnen werden kann, wenn man den Kunden langfristig an sich bindet. Von der ehemals weißen Bettwäsche, die langsam farbig wurde - zunächst buntgewebt und dann auch bedruckt -, sind heute alle zu hochmodischen Anbietern geworden, die jede Saison mindestens zwei Kollektionen auf den Markt bringen. Die Produktinnovation, insbesondere in der Bettwäsche, liegt also ganz sicher in der Mode. Weit weg von der ehemals rein weißen Bettwäsche werden heute hochfarbige Muster auf den Markt gebracht, die sich den Zyklen der Mode anpassen.
Was die Qualitäten angeht, so ist des Deutschen liebstes Kind immer noch die Baumwolle. Selbst wenn Ausflüge in die Mikrofaser kurzzeitig auch dem Polyester eine Chance einräumen, so sind dies doch vorwiegend Preisgründe. Der Deutsche liebt die Bettwäsche aus Baumwolle, sei es gewebt oder gestrickt. Insofern sind die Produktinnovationen hier graduelle Verbesserungen in den Produktionstechniken. Die große Revolution ist aber in den letzten 60 Jahren ausgeblieben. Selbst wenn der Wandel von Renforcé und Cretonne sich hin zum Satin vollzogen hat, so sind die Spinn-, Web- und Drucktechniken doch mehr oder weniger die gleichen geblieben.
Nachdem in der Textilindustrie sehr oft die Innovation aus der Faser kommt, hat sich dank der Baumwoll-Lastigkeit in der Bettwäsche relativ wenig Neues getan. Produktinnovationen wie Reißverschlüsse statt Knöpfe und Bügelfreiheit statt Mangeln sind dabei doch eher kleine Schritte. Der ganz große Wurf, beispielsweise Bettwäsche aus Vliesstoffen und dergleichen, sind bisher nicht eingetreten. Das zeigt zwei Dinge - erstens, dass die Produkte sehr ausgereift sind und zweitens, dass die Kostensenkungs-Potenziale durch die Verlagerung ins Ausland erreicht worden sind und nicht unbedingt durch Produktinnovationen.
Leider zeigt das Verschwinden von vielen Marken aus den Fernsehwerbungen und Zeitschriften auch, dass die Wertschöpfungen unserer Industrie nicht hoch genug sind, um große Marketingkampagnen zu starten. In den 60er und 70er Jahren ist die Firma Fleuresse regelmäßig mit verschiedenen Werbekampagnen in den deutschen Fernsehkanälen sowie in allen großen Illustrierten aufgetaucht. Die Gründung von Zeitschriften wie Constanze, die später zur Brigitte wurde, und anderen wurden immer begleitet von der Heimtextilindustrie. Heute ist dies leider nicht mehr bezahlbar, so dass auch das Markenbewusstsein bei den Endverbrauchern leider zurückgegangen ist. Nun kann man die Frage stellen, ob es eine bessere textile Zeit in den 60er, 70er und 80er Jahren gegeben hat als heute oder nicht. Es war ganz sicher eine andere Zeit, besser war sie wohl nicht. Die Textilindustrie heute ist in vielen Entwicklungsländern ebenso wichtig wie sie hier war, und der Export unserer Produkte, beispielsweise nach Westafrika zeigt auch, dass dort die Bedürfnispyramide noch ähnlich funktioniert wie in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg. Die Entwicklung der Bevölkerung und der Wandel hin zu neuen Schwerpunkten und Lebensinteressen zeigt einfach nur eine andere Bedürfnispyramide in den Industrienationen.
Die Herausforderung für unsere Unternehmen ist, sich darauf rechtzeitig einzustellen. Vor 20 Jahren noch glaubte jeder, dass der Sieger in diesem Wettlauf unbedingt der Handel sein muss. Heute wird diese Frage diskutiert. Vor 30 Jahren glaubte man noch, dass man mit Kostenführerschaft die Textilindustrie in diesem Land aufrecht erhalten kann. Heute sind die Kosten nicht mehr so wichtig wie modische Produkte und Markennamen. Viel hat sich gewandelt, und verursacht durch die momentane Krise wird sich diese Wandlung zwar auf demselben Wege, aber schneller vollziehen. Bereits bei der ersten Ölkrise 71/72 ist eine große Anzahl von Textilunternehmen in diesem Land verschwunden, ebenso wie zehn Jahre später Anfang der 80er. Dieser Zyklus wird sich fortsetzen, und unsere Industrie wird in diesem Land, sofern dies überhaupt noch möglich ist, weiter schrumpfen. Diese Tatsache ist der Gang der Dinge, und rechtzeitig zu erkennen, wo der Weg hingeht, ist die Aufgabe des Unternehmers - aber auch des aufgeweckten Journalisten.
Ihre Aufgabe wird es also auch weiterhin sein, in den nächsten Jahren Trends zu erkennen, Änderungen zu beschreiben und unsere Industrie auf ihrem steinigen Weg weiter zu begleiten. Viel Glück dazu und ein herzliches Dankeschön!
aus
Haustex 08/09
(Wirtschaft)