GHF: Interview mit Eberhard Liebherr, Carsten Weerts, Jürgen Wagner
Der Großhandel avanciert zur Bank für seine Kunden
Keine Spur von Krise im Großhandel - zumindest nicht bei Bodenbelägen sowie Farben und Lacken. Dekostoffe und Gardinen leiden dagegen unter Absatzrückgängen, Möbelstoffe sind wiederum stabil. Zugleich verändern sich die Strukturen beim Großhandel wie auch bei seinen Lieferanten und Kunden - und damit auch Aufgaben und Aktionsfelder des Großhandels. Ein Grossist sieht sich heute vor ganz andere Herausforderungen und Bedingungen gestellt als vor zwanzig Jahren. Welche Einflussfaktoren das sind, wie sich erfolgsorientierte Unternehmen am Markt bewegen und auf welches Umfeld sie stoßen, diskutierte die BTH Heimtex-Redaktion mit drei namhaften Repräsentanten des Großhandels: Eberhard Liebherr, stellvertretender Vorsitzender des GHF (Bundesverband Großhandel Heim & Farbe), GHF-Vorstandsmitglied Carsten Weerts und GHF-Geschäftsführer Jürgen Wagner.
BTH Heimtex: Die Industrie ist mit voller Breitseite von der Wirtschaftskrise getroffen worden und hat im ersten Halbjahr zum Teil massive Umsatzeinbußen hinnehmen müssen. Der Großhandel blieb dagegen weitgehend verschont. Wie sieht es in den verschiedenen Produktgruppen aus?
Carsten Weerts: Im Stoffbereich ist das Jahr bislang nicht gut gelaufen, wobei man hier wiederum differenzieren muss. Eindeutig im Minus liegen Dekostoffe - rein bezogen auf den privaten Konsumenten, nicht das Objektgeschäft. Zum einen ist das Kaufverhalten derzeit ausgesprochen zurückhaltend, zum anderen wandelt sich die Mode und es setzen sich zunehmend alternative Dekorationsformen am Fenster durch wie Flächenvorhänge, die dem Dekostoff Metragen wegnehmen. Aus dem gleichen Grund ist auch die klassische Gardine ein schwieriges Produkt geworden.
BTH Heimtex: Betrifft die akute Nachfrageschwäche alle Ebenen oder lässt sich wie bei anderen Branchen eine Polarisierung erkennen, bei der sich Premiumprodukte der negativen Entwicklung entziehen?
Weerts: Der Rückgang zieht sich durch alle Bereiche. Wobei die Mitte schon länger leidet. Aber auch der obere Bereich hat Probleme, die jedoch hauptsächlich aus dem Ausland resultieren. In Osteuropa und auch in bislang boomenden Ländern wie Dubai werden derzeit alle Projekte im Upper Class-Bereich geschoben oder gar ganz gestoppt. Ich denke, dass es auch dauern wird, bis das Geschäft dort wieder anläuft.
BTH Heimtex: Keine schöne Aussicht. Was tun Sie dagegen?
Weerts: Ich kann jetzt nur für unser Haus sprechen: Wir versuchen, uns durch unsere Markenkonzepte von der negativen Entwicklung abzukoppeln. Das gelingt uns auch. Doch ist es schon schwierig, sich den dämpfenden globalen Einflüssen zu entziehen.
BTH Heimtex: Also sind Marken ein tragfähiges, erfolgsversprechendes Konzept?
Weerts: Wir sehen das so. Wobei Marken nicht das einzige Konzept sein können. Man muss schon breiter aufgestellt sein. Denn man macht mit einer Marke nicht jeden Konsumenten glücklich und man erreicht auch nicht jeden. Es gibt eine gewisse Klientel, die darauf anspricht, andere nicht.
BTH Heimtex: Lässt sich denn mit einer Marke Geld verdienen? Böse Zungen behaupten, dass die Lizenzgebühren die Marge aufzehren.
Weerts: Was Geld und Zeit kostet, ist die Etablierung einer Marke, die Aufbauarbeit. Über die reinen Umsätze verdient man Geld, auch wenn ein Lizenzprodukt teurer ist als andere. Grundsätzlich ist das kein kurzfristiges Geschäft, sondern ein Prozess, der sich über drei bis fünf Jahre hinziehen kann.
BTH Heimtex: Meiner Meinung nach ist die Gardinen-Flaute nicht allein eine Folge der Wirtschaftskrise, sondern einer Krise des Produktes.
Weerts: Sicher gibt es Produktlebenszyklen, denen auch die Gardine unterworfen ist. Danach wird sie vermutlich in den nächsten zehn Jahren keinen Boom erleben.
BTH Heimtex: Hat die klassische Gardine überhaupt Überlebenschancen?
Weerts: Natürlich. Nur die Klientel wird sich verändern. Und sie muss neu und anders interpretiert werden. Dann wird sie für den Konsumenten auch wieder interessant.
BTH Heimtex: Geht es Möbelstoffen auch so schlecht?
Weerts: Nein. Möbelstoffe laufen recht gut. Die Auftragslage in diesem Bereich ist erfreulich mit beachtlichen Auftragspolstern, die zum Teil drei bis vier Monate Vorlauf erreichen. Das ist zunächst erstaunlich, lässt sich aber leicht erklären: Es gibt ein Klientel, das sich mit den neuen Polstermöbel-Typen nicht anfreunden kann und lieber sein altes Sofa neu beziehen lässt.
BTH Heimtex: Bei Bodenbelägen hat sich der Großhandel nach meinem Kenntnisstand im ersten Halbjahr ganz ordentlich behauptet - bis auf Parkett und Laminat.
Eberhard Liebherr: Das stimmt. Parkett und Laminat mussten die größten Einbußen hinnehmen. Es könnte sein, dass ihr Produktlebenszyklus ebenfalls überschritten ist. Manche meinen auch, dass Designbeläge Laminat und sogar Parkett substituieren, weil sie modern sind, gestalterisch anspruchsvoll und flexibel.
BTH Heimtex: Und wie haben Farben und Lacke in der ersten Jahreshälfte abgeschnitten?
Jürgen Wagner: Unspektakulär, verglichen mit den Entwicklungen, die man bei Heimtextilien sieht. Dass das erste Quartal 2009 für die Farbe negativ war, lässt sich ganz simpel mit den Witterungsverhältnissen begründen. Das zweite Quartal war dann in der Regel positiv, so dass die meisten im ersten Halbjahr das Vorjahr erreicht haben bzw. leicht darüber oder darunter lagen - und das auf Basis eines extrem guten Vorjahres. Also ist die Wirtschaftskrise bei Farben und Lacken definitiv nicht angekommen. Oder zumindest noch nicht angekommen. Wie sich das Jahr weiter entwickeln wird, vermag heute keiner zu sagen. Bei der Farbe schon gar nicht, weil sie ein stark witterungsabhängiges Geschäft ist.
BTH Heimtex: Gerade bei der Farbe könnte im zweiten Halbjahr das Konjunkturpaket II greifen.
Wagner: Richtig. Keine Frage: Rückenwind ist da. Auch WDVS (= Wärmedämmverbundsysteme, Anm. d. Redaktion) sind ein Thema, dass durch den Anstieg der Energiepreise weiteren Schub erhalten wird.
BTH Heimtex: Wie sieht es mit der Gewichtung der Distributionsschienen aus? Sind die Direktvermarkter, die Kofas, weiter auf dem Vormarsch?
Wagner: Was meinen Sie mit "weiter auf dem Vormarsch"? Es gibt ja keine verlässlichen Zahlen, dass sie das tatsächlich sind. Wenn ich mir anschaue, wie sich der Großhandel seit 2005 entwickelt hat, welche Marktabdeckung und Standortdichte er erreicht hat, kann ich das schon gar nicht nachvollziehen. Die Zahl der Großhandelszentralen hat sich zwar reduziert, dafür die der Filialen stark vermehrt, mit Zuwachsraten von jährlich 6, 8 und 10 %. Die müssen irgendwo einen Markt finden - und das sicher nicht nur beim Nachbar-Großhandel, sondern auch bei anderen Marktteilnehmern. Sonst würde sich diese zunehmende Filialisierung überhaupt nicht rechnen, zumal der Markt nicht in gleichem Umfang gewachsen ist.
BTH Heimtex: Aber nicht nur beim Farbengroßhandel ist die Verdichtung zu beobachten, sondern auch beim Bodenbelagsgroßhandel. Herr Liebherr, Sie sind mit Ihrem Unternehmen selbst ein Beispiel dafür...
Eberhard Liebherr: Ja, ich kann Ihnen auch eine präzise Erklärung dafür liefern: Wenn die beiden großen, bundesweit agierenden Unternehmen im Bodenbelagsgroßhandel wie auch die Mega als weitere starke Kraft immer mehr Niederlassungen eröffnen, müssen wir anderen Großhändler nachziehen und auch in die Fläche gehen, damit wir denen nicht das Geschäft abtreten. Wir wollen in unserer Region so gut vertreten sein, dass unsere Kunden immer in überschaubarer Entfernung auf einen Standort von uns treffen.
In anderen Worten heißt das: Wenn die Großen so expandieren und die Richtung vorgeben, müssen wir uns überlegen, ob wir ihnen das Feld überlassen oder mit unserem Know-How, unserer Verankerung in der Region, unserer Kundennähe und unserem Sympathiewert gegen halten. Und wenn es möglich ist, machen wir das. Ein neuer Standort bringt ein Unternehmen schließlich nicht gleich in wirtschaftliche Gefahr. Von dem kann man sich auch schnell wieder trennen, wenn er sich nicht im Eigentum befindet.
Die Industrie unterstützt uns da auch. Sie möchte lieber, dass die anderen Großhändler mitwachsen und eine gewisse Parität im Markt gewahrt bleibt.
BTH Heimtex: Haben Sie auch Erkenntnisse über die Strukturen Ihrer Kunden?
Liebherr: Dort verändern sich die Betriebsgrößen, werden kleiner. Damit werden sie abhängiger vom Großhandel. Offen gesagt: Ich bin froh um jeden kleinen Betrieb - auch wenn das keine 100.000 EUR-Kunden sind. Zehnmal 10.000 EUR ergeben schließlich auch 100.000 EUR. Und viele kleine Kunden bedeuten weniger Risiko.
BTH Heimtex: In der Industrie gibt es derzeit andere Bestrebungen: Lieber weniger und dafür größere Kunden...
Wagner: Wir dürfen nicht die Beziehung vom Großhandel zu seinem Kunden und der Industrie zum Großhandel verwechseln. Der Großhandel ist in aller Regel regional oder sogar nur lokal aufgestellt und in seinem Gebiet tief verankert.
Die Industrie ist aber bestrebt, national oder international zu arbeiten und sucht dementsprechend Kunden, die adäquat breit positioniert sind und mit denen sie den Markt von Flensburg bis München und Frankfurt an der Oder bis Köln abdecken kann. Das kann sie mit einem überregional agierenden Großhändler eher als mit einem lokalen. Außerdem kann sich die Industrie gar nicht leisten, an einem großen Vertriebspartner vorbeizugehen, der 5 oder 10 oder gar noch mehr Prozent des Marktes beansprucht.
Liebherr: Das mag für Konzerne zutreffen, aber nicht für mittelständische, kleinere Unternehmen.
Wagner: Lassen Sie mich noch eins hinzufügen: Wenn die Industrie bestrebt ist, größere Kunden an sich zu binden, weil sie mit denen rentabler und lukrativer arbeiten kann - und umgekehrt genauso - erwächst daraus schon eine Allianz, die einerseits eine gegenseitige Abhängigkeit mit sich bringt und andererseits für den Rest des Marktes ein gewisses Risiko birgt. Diese engen Zusammenschlüsse sind für den Gesamtmarkt eher negativ zu beurteilen. Weil sie Vielfalt und Auswahlmöglichkeiten vermissen lassen oder zumindest einengen.
BTH Heimtex: Auf jeden Fall muss die Industrie ein vitales Interesse an einem funktionsfähigen Großhandel haben, weil der ihr die Marktbearbeitung wesentlich erleichtert. Welche Argumente führen Sie außer Marktnähe und Sympathiewert gegenüber Ihren Kunden ins Feld? Warum soll er beim Großhandel kaufen, anstatt direkt bei der Industrie?
Liebherr: Die Stärken des Großhandels liegen ganz klar in der Sortimentsbreite und -tiefe, der Warenverfügbarkeit und der schnellen Belieferung, auch Just-in-time auf die Baustelle. Dazu kommt eine Dienstleistung, die wir schon lange pflegen, die aber derzeit viel stärker nachgefragt wird: Die Finanzierungsfunktion. Das fängt an bei langen Zahlungszielen und reicht über Ratenzahlungs-Verträge bis hinzu Abtretungsvereinbarungen mit dem Bauherren. Wir können nicht jeder Handwerker mit Standard-Finanzprodukten bedienen. Es gibt völlig flexible Modelle. Auch hier erweist sich der Großhändler als Dienstleister, den der Handwerker dringend benötigt.
BTH Heimtex: Was bedeutet das im Gegenzug für Ihre eigene Finanzierung? So üppig ist die Kapitaldecke eines Großhändlers im Regelfall nicht...
Liebherr: Das ist ein Netzwerk. Wir brauchen wiederum gute, starke Lieferanten, die uns entgegenkommen, stützen und stärken plus der Substanz, die wir uns in den etwas besseren Jahren aufgebaut haben.
Das sind schon ganz andere Bedingungen und Herausforderungen für den Großhandel als vor zwanzig Jahren. Damals hat ein Großhändler einfach ein Produkt bei seinem Hersteller eingekauft und mit einer auskömmlichen Marge weiterverkauft und damit seine Expansion finanziert. Aber die unternehmerische Herausforderung ist heute nicht mehr, ein Billig-Laminat durch ein anderes Billig-Laminat zu ersetzen, sondern sein Unternehmen über Dienstleistung, Standorte und gute Konzepte am Markt abzubilden. Und dazu gehört eben auch, dass man das Finanzgeschehen beherrscht.
aus
BTH Heimtex 09/09
(Wirtschaft)