Bodenbeläge auf der Domotex
"Das Jahr der Wahrheit"
Wir müssen hier einmal eine Lanze für die Domotex 2010 brechen: Sie war nämlich besser als erwartet, besser als ihr Ruf und vor allem besser als die Unkenrufe mancher Messekritiker. Zwar fehlten einige große Namen, andere hatten sich im Vergleich zu früher deutlich verkleinert, doch etliche von denen, die Hannover die Treue gehalten hatten, äußerten sich am Ende mehr als zufrieden - und hatten auch richtig Geschäft gemacht. "Verlierer sind die, die nicht auf der Messe waren", sei mit Ulrich Dresing von Infloor und Girloon einer von ihnen zitiert. Auch zeigte sich die Branche in diesem Jahr ausgesprochen innovativ; wer offenen Auges über die Domotex ging, konnte eine ganze Reihe spannender, "echter" Neuheiten entdecken: unter anderem bei Anker, Armstrong, Fletco, IVC, Object Carpet, Tarkett und Witex. von Claudia Weidt
Überraschend positiv ist das Fazit der diesjährigen Domotex. Auch wenn Aussteller- und Besucherzahlen nicht an frühere Rekorde herankommen - und, seien wir ehrlich: sie vermutlich auch nie wieder erreichen werden - belegte die Messe ihre Existenzberechtigung, die von manchem Messemüden angezweifelt wird: Denn es gab jede Menge innovativer Produkte, Produktideen und Konzepte zu entdecken - eindeutig mehr als in den Vorjahren - es wurden konstruktive Gespräche geführt und es wurde vor allem über Geschäfte gesprochen. Damit hat die Domotex ihre Funktion erfüllt und ihre Bedeutung als Branchentreffpunkt bekräftigt.
Noch am Dienstag vormittag waren überall auf den Ständen bekannte Gesichter aus dem Großhandel und dem Fachhandel in den Austausch mit ihren Lieferanten vertieft - wie beispielsweise Copa-Vorstand Manfred Birkenstock, bei dem die Messe "einen sehr guten Eindruck hinterlassen hat". Und es ging dabei offenbar nicht nur um Kontaktpflege. Wie Luc Jongbloet vom belgischen Tufter ITC berichtet, hätte sich der Großhandel geradezu "euphorisch auf die neuen Kollektionen gestürzt". Ulrich Dresing, geschäfsführender Gesellschafter von Infloor und Girloon, ist einer der unverdrossenen Domotex-Getreuen und eigentlich nie richtig unzufrieden mit der Messe. In diesem Jahr brummten seine Stände bis zum letzten Messeabend, was ihn zu der lakonischen Bemerkung veranlasste: "Verlierer sind die, die nicht auf der Messe waren." Dass das kein "Schönreden" ist, belegen Aussagen aus der Zulieferindustrie wie von Bruno Torresani von Faserhersteller Aquafil, den seine Kunden auf der Domotex ab dem zweiten Tag mit Lieferwünschen förmlich überrannten: "Alle wollten schneller beliefert werden und mit größeren Mengen. Das war eine fantastische Messe, die beste seit Jahren."
Allerdings wäre es voreilig, daraus zu schließen, dass nach dem krisengeschüttelten Vorjahr 2010 in der Bodenbelagswelt wieder eitel Sonnenschein herrscht. Vielmehr setzen sich auf allen Ebenen die Konzentrations- und Konsolidierungsprozesse weiter fort.
Fangen wir bei der Faserindustrie an. Sie hat sich in den letzten Jahren massiv verändert. Namen wie Snia, Enka - später Akzo -, Allied, ICI und Hoechst sind längst Geschichte. Ihre Großkunden hatten sich irgendwann abgenabelt und versorgen sich seitdem selbst. Einige der großen Volumenanbieter in Belgien und den Niederlanden haben rückwärts integriert und sind dabei inzwischen über die simplen Commoditys der Anfangszeit hinausgewachsen und sogar in der Lage solution-dyed Garne herzustellen. Andere beziehen ihre Fasern günstig in der Türkei.
Es gibt aber nicht nur Verlierer in der Faserwelt, es gibt auch Gewinner: Aquafil zum Beispiel. Die Italiener haben in den letzten Jahren alles richtig gemacht: Enorm in neue Produkte investiert und sich damit neue Segmente erschlossen, die ohnehin ausgeprägte Kundennähe und -orientierung noch weiter intensiviert. Parallel haben sie globalisiert und suchen mit neuen Werken in den USA, Thailand, China gezielt die geographische Nähe zu Zukunftsmärkten. Durch den Einstieg eines britischen Finanzinvestors ist dem zuvor komplett im Besitz der Familie Bonazzi befindlichen Unternehmen frisches Kapital zugeflossen, das für weitere Expansion aufgewendet werden kann. Damit hat Aquafil dem großen Mitbewerber Invista ganz schön den Rang abgelaufen. Invista ist nur noch da nicht angreifbar, wo Polyamid 6.6 unersetzbar ist, denn Aquafil produziert nur Polyamid 6.
Die größte Aufgabe steht jedoch zweifellos der viele Jahre lang erfolgsverwöhnten belgischen Teppichindustrie bevor. "Die Zeiten, in denen wir die internationale Teppichwelt erobert und beherrscht haben, sind vorbei", erkennt einer ganz richtig. Der Wettbewerb aus dem niederländischen Genemuiden ist erstarkt und hat den Belgiern Markanteile abgenommen - Firmen wie Condor, Betap,Timzo und Béwé. Dazu entsteht neue, preisaggressive Konkurrenz im Osten: die im Textilbereich generell sehr umtriebigen Türken, die auch ihre eigenen Garne extrudieren und trotz der kapital- und energieintensiven Extrusion preislich weiter unter den Belgiern liegen. "In Großbritannien setzen sie schon richtig Mengen ab", hat einer beobachtet. Auch chinesische Tufter suchen sich weltweit ihre Absatzmärkte und strecken die Fühler dabei bis nach Europa aus.
Erschwerend hinzu kommt, dass große, für die Belgier wichtige Märkte wie Russland, der mittlere Osten und Großbritannien wegbrechen. "Das kommt auch nicht wieder zurück", orakelt einer düster - und hat damit wahrscheinlich Recht.
Ein weiteres Problem ist die für die Branche typische geringe Rentabilität, die weder besonders viel Spielraum für Investitionen lässt, noch profitorientierte Anteilseigner zufriedenstellen kann. Die Frage ist, wer am längsten den Kopf über Wasser halten kann...
"2010 wird das Jahr der Wahrheit", wird Filiep Balcaen in der belgischen Presse zitiert. Angesichts von Überkapazitäten, Preisdruck, engen Märkten und wachsender Konkurrenz sieht er das Zusammenrücken der belgischen Industrie, sprich Fusionen, als wohl einzige Lösung - ohne konkret zu werden, wer sich mit wem zusammenschließen könnte. Er persönlich kann der weiteren Entwicklung auch gelassen entgegen sehen: Mit IVC besitzt er eine prosperierende, expandierende Firma und zudem noch einen Minderheits-Anteil an dem von seinem Vater gegründeten Konzern Balta, der heute mehrheitlich Finanzinvestor Doughty Hanson gehört. Und das sind zwei Unternehmen, die eher ein Dach für andere bilden werden, als dass sie sich selbst unter eins flüchten müssen.
Just Balta könnte sich als Hecht im Karpfenteich erweisen. Nachdem noch vor gar nicht langer Zeit Gerüchte kursierten, dass sich Doughty Hanson von Balta trennen wolle, scheinen sich die Absichten dort inzwischen umgekehrt zu haben und Balta seinerseits auf Brautschau zu sein. Nach Informationen belgischer Zeitungen hat man bereits bei der Domo-Gruppe angeklopft, doch Gregory de Clerck, Sohn von Jan de Clerck und Enkel des legendären Roger de Clerck, hat abgewinkt. Nun gibt es sicher noch andere Möglichkeiten der Arrondierung für Balta bzw. Doughty Hanson - nicht nur vor der Haustür im heimischen Belgien...
Aufmerksam schaut die Branche nach Harelbeke, wo der junge, gerade 30jährige Joe Lano das Erbe seines Vaters Dr. Pierre Lano angetreten hat, der sich im November 2009 das Leben nahm. Kein leichtes Erbe, denn das renommierte Unternehmen Lano hat sich 2009 nach einem katastrophalen Vorjahr erst mühsam wieder auf die Beine gehievt und befindet sich noch in der Sanierungs- und Restrukturierungsphase. Joe Lano lässt sich davon nicht beirren und gibt sich durchaus selbstbewusst. Er will lieber "der größte in der Nische sein, als der kleinste unter den Volumen-Anbietern" und sieht sich folgerichtig mehr im Wettbewerb mit Desso und Balsan als mit Balta oder der B.I.G.-Gruppe.
Stichwort B.I.G.: Die aus den verschiedenen Unternehmungen der Industriellen-Familie De Clerck gebildete Formation ist ein sensibles Gebilde, bei dem sich familienfremde Manager wie auf einem Minenfeld bewegen. Deshalb hatte sich die Familie durchgerungen, mit Francis De Clerck doch einen der Ihren an die Spitze zu stellen. Francis, oft unterschätzt, weil introvertierter als seine älteren Brüder Jan und Luc, hatte mit seiner erfolgreichen Ideal-Gruppe den stärksten Textilbelags-Anbieter eingebracht und dürfte vor seinem Schwager Stephan Colle die größten Anteile an B.I.G. halten. Unter ihm als CEO wurde die Division Textilbeläge konsequent reorganisiert, das Sortiment radikal gestrafft und bereinigt und die Abhängigkeit vom britischen Markt reduziert. Insider meinen, dass B.I.G. nun ganz gut aufgestellt ist - sofern man die Metamorphose vom produktionsgesteuerten zum vertriebsgesteuerten Hersteller schafft.
Allerdings bewegt sich bei B.I.G etwas hinter den Kulissen. Der De Clerck-Clan, bei dem sich schon Dissonanzen offenbarten, als sich der älteste Sohn Jan nicht mit seinen Betrieben einordnen wollte, zeigt weitere Risse. Schon auf der Domotex wurde kolportiert, dass Dominieck De Clerck, der jüngste Sohn, aussteigen wolle. Anfang Februar schrieben belgischeTageszeitungen, es sei nun definitiv. Es sei an der Zeit, die Weichen für die nachfolgende Generation zu stellen, wird er zitiert. Er habe fünf Kinder, davon vier Mädchen, die sich nun ihrerseits ihre Karrieren aufbauen wollten. Der in diesem Jahr 50jährige hatte schon mit fünf Jahren im Betrieb seines Vaters gespielt. Mit weiteren Äußerungen hielt sich Dominieck de Clerck zurück, offenbar bemüht, Animositäten zu vermeiden. Familienpatriarch Roger De Clerck, der die europäische und vor allem die belgische Teppichindustrie geprägt hat, und mittlerweile 85 Jahre alt ist, äußerte sich nicht öffentlich.
Ungeachtet der Familiengeschichte scheint B.I.G. ziemlich sicher zu stehen. Das gilt weniger für Associated Weavers, die Stephan Colle über ein kompliziertes Konstrukt an B.I.G. angebunden hat. Belgische Zeitungen spekulieren über die Zukunft von AW, einst unter Henri van Dierdonk gut im Geschäft. Auf der Domotex legte der Tufter aus Ronse allerdings einen beeindruckenden Auftritt hin.
Schlagen wir noch einmal den Bogen zurück zu Filiep Balcaen und IVC. Im Unternehmen mag man noch nicht darüber sprechen und hält sich bedeckt, doch in der belgischen Presse war es schon zu lesen und ist daher kein Geheimnis mehr: Nach der 70 Mio. USD-Investition in ein CV-Werk in den USA, will er nun eine eigene Fabrikation für Designbeläge in Belgien errichten. Schon 2011 soll der Betrieb an den Start gehen, bis dahin behilft er sich mit Handelsware. Genauso hat er einst mit IVC im CV-Segment reüssiert....
Der Blick über die Grenze nach Belgien soll nicht vom Geschehen im eigenen Land ablenken. Bitter der Zusammenbruch der Enia Carpet-Group. Schon lange kursierten Gerüchte von ernsthaften Problemen, die sich unmittelbar vor der Domotex bewahrheiteten, als die Insolvenz von Enia France bekannt wurde. Und eigentlich wartete man täglich auf die Nachricht, dass auch Enia Paderborn den Gang zum Amtsgericht antreten muss - was dann Ende Januar erfolgte. Enia Niederlande war mittlerweile von Desso übernommen wurde. Was mit der Holding in der Schweiz passiert und dem osteuropäischen Joint-Venture in Serbien...keiner weiß es. Dr. Benjamin Fuchs scheint abgetaucht. Da ist einer tief gefallen, der hoch hinaus wollte. Ein hochintelligenter, ambitionierter junger Mann, voller Courage und erst auch voller Chuzpe. Dann wollte er zu viel auf einmal, traf falsche Personalentscheidungen, lag mit Kollektionen daneben...schade drum, schade um das Unternehmen...
aus
BTH Heimtex 02/10
(Wirtschaft)