Kurt Reichelt über die Zukunftsperspektiven Heimtex-Handel 2010

Vermarktungsstrategien contra Preis- und Konditionswettbewerb


Das Umfeld

Je instabiler der Kapitalmarkt, desto spekulativer der Einsatz von Kapital mit dem Nachteil der Risikosteigerung und Umverteilung der Verluste. Der Kaufkraftverlust alleine bei Telekom ist milliardenschwer. Daneben spielt auch die Einführung des Euro eine gravierende Rolle als kaufkraft-reduzierende negative Kraft: So liegt die offizielle Preissteigerungsrate nach Warenkorb zwar nur bei 2 bis 3 %, tatsächlich bewegen sich die Preiserhöhungen zwischen 8 bis 10 %.

Die Branche

Speziell bei unserer Branche der Heimtextilien und Bodenbeläge ergibt sich im Vergleich zu den Vorjahren ein kumuliertes Minus von 10 bis 15 %, das im wesentlichen auf zwei Faktoren basiert:

1. Rationalen Mengenreduzierungseffekten: Das "Aufschaukeln" der Umsatzlinien nach der Wende musste berechenbar nach 5 bis 6 Jahren stagnieren und sich in Abschlägen wieder auf die Zahlen von 1988 plus Bevölkerungszuwachs normalisieren. Bei näherer Betrachtung ergeben sich also keine Minuszahlen, sondern stabile Vergleichszahlen, allerdings mit reduzierten Gewinnmargen

2. Emotionaler Wertewandel: Viel stärker als in den obengenannten Gründen der Kaufkraftreduzierung ist das veränderte Einkaufsverhalten im emotionalen Wertewandel. Gerade bei Bodenbelägen muss eine negative Einstellung der Verbraucher festgestellt werden. Ein Überangebot und daraus folgender Preisverfall haben ihre Begehrlichkeit reduziert. Sie sind als Instrument der Wertschöpfung für alle Stufen der Produktion über den Handel bis zum Endverbraucher nicht mehr interessant.

Um neue Begehrlichkeiten aufzubauen, bedarf es großer Marktanstrengungen von Seiten der Industrie und des Handels hin zu einem höheren Niveau bei Qualität, Präsentation und Verarbeitung.

Dabei sind die Hersteller gefordert, die Vermarktung über imagefördernde Werbemaßnahmen voranzutreiben, der Handel wiederum muss über das Wissen und das Können verfügen, die Produkte qualifiziert verkaufen zu können und dabei emotionale Verkaufsgespräche aufbauen, denn: die Ware ist austauschbar, ein menschlicher, möglichst positiver Dialog hingegen einmalig.

Trends und darauf abgestimmte Werbeaktivitäten

Zunehmende Mobilität im Berufs- und im Privatleben macht sich auch im Wohnumfeld bemerkbar, das von Flexibilität und Multifunktionalität geprägt wird.

Bezogen auf Heimtextilien und Bodenbelägen bedeutet das eine stärkere Forcierung von
- Teppichfliesen als dem "mobilen Boden",
- selbstliegenden PVC-Fliesen als dem "mobilen Boden",
- variablen Fertiggardinen , zum Beispiel mit höhenverstellbarer Saumkonstruktion
- mobile Freihand-Fensterdekorationen, ergänzt zum Beispiel mit klemmbaren Jalousien. Hier müssen Grundkonzepte erarbeitet werden, die sowohl modische als auch qualitative Ansprüche erfüllen.

Individualisierung ist und bleibt der größte soziokulturelle Trend der Gegenwart und bestimmt sowohl die Kleidung als auch das Wohnumfeld - natürlich marken- und image-orientiert. Gefragt sind variables, individuelles Design und Farbgestaltung. Als Werbeslogans bieten sich an:
- Gestalten Sie Ihren persönlichen Teppichboden
- Exklusive Teppichböden nach ihrem Entwurf
- Ihr Dekostoff sucht sie - 5.000 Varianten warten auf Ihre Wahl
- Wir bieten Farbberatung für Lebensstile

Single-Haushalte nehmen zu. Zur Zeit leben über 13 Mio. Menschen in 1 Personen-Haushalten. Gerade Singles kaufen heute zweigleisig ein: Einerseits Aldi und Ikea oder Feinkostanbieter und Designhaus, andererseits Aldi und Designhaus oder Feinkostanbieter und Ikea. Folgerichtig ist die Bewerbung dieser relativ starken Absatzgruppe sowohl stark im rationalen, preiswerten Bereich als auch konträr im emotionalen, hochwertigen Bereich angesiedelt.

Ausgehend von Wohnungen mit 40 bis 60 qm Wohnfläche sind
1. Komplettangebote und
2. imageorientierte Markenwerbung richtig und notwendig.

Die Menschen organisieren ihre Netzwerke künftig horizontal als Interessengemeinschaften, die flexibel unterschiedlichen Lebenssituationen angepasst werden. Diese Beziehungsnetzwerke werden sich in Zukunft zu globalen Erlebniskulturen entwickeln, die sich auch auf die Einkaufswelten auswirken. Dies bedeutet für die Praxis: Regionale Vereinsstrukturen wie Landfrauen, Seniorenclub, Schachclub usw. aufarbeiten.

Familienfreundlichkeit für alle partnerschaftlichen Lebensformen ist gefragt. Dabei stehen freie Lebensgemeinschaften mit Kindern gleichberechtigt neben der traditionelle Familie. Deshalb ist mittelfristig ist die familiengerechte Ansprache in Werbung und Ladenbau von größter Wichtigkeit. "Alibi-Spielecken" sind zu wenig. Farbwelten für Lebensräume müssen aufgearbeitet werden; Problemlösungen sind gefragt.

Das Ansteigen der Alterskurve verlangt gezielte Vermarktungsstrategien für Senioren. Der Kauf soll zum emotionalen, sinnlichen Erlebnis werden. Wichtig: ehrliche, nachvollziehbare Werbung.

Wie können Industrie und Handel qualitatives Absatzmarketing umsetzen?

Von der Industrie sind gefordert:
- Klare Markenprofile; Positionierung am Markt weniger nach Volumen, als nach einer qualitativen Gesamtbewertung des jeweiligen Händlers. Vorteil: Preisstabilität und qualitativ hochwertige Verarbeitung reduzieren Reklamationen und Haftungsansprüche an die Industrie
- Klare Handelsabsprache im Niedrigpreisbereich
- Werbliche Unterstützung für Konzepte der Produkt- und Anbieterprofilierung.
- Vorgaben von Trainingsprogrammen zum qualifizierten Produktabsatz. Sinnvoll: Bonusvereinbarungen nach Ertrag und nicht nach Umsatzzahlen. Empfehlenswert: Ein Kombi-Bonus - wer nicht in Wissen und Können investiert, wird auch nicht gefördert. D. h. Qualifikationen werden ebenfalls bewertet.
- Mehr innovative Produktkombinationen; Nischen entdecken und neu definieren.

Vom Handel sind gefordert:
- Qualifizierung des Personals im Verkauf und der Verarbeitung
- Mittel- und langfristige Unternehmensplanung in fixen Inhalten und Zielen
- Prämiensysteme für das Personal mit Koppelung an Bildungsmaßnahmen und Ertrag
- Bessere Umsetzung von Markenstrategien der Industrie im Verkaufsraum besser
- Ergänzungsprodukte neu aufarbeiten; Einteilung in Kern- und Nebensortiment
- Emotionale Konzepte in Werbung und Präsentation sowie Kundenbindungsaktivitäten erarbeiten; nur individuelle Konzepte nach einem Stärkenprofil des Unternehmens sind erfolgsorientiert

Fazit

Bis 1995/96 hat der Verbrauch stets zugenommen und so zu Fehleinschätzungen der kurz- und mittelfristigen Zukunft geführt. Seit 1998 haben wir Absatzeinbußen in einer Größenordnung von 20 bis 30 % gegenüber den Jahren 1995 bis 1996.

Die Gründe hierfür sind vielfältiger strukturiert als die Ursachen, die oft oberflächlich zum Besten gegeben werden. Hauptgrund ist ein ruinöser Preiswettbewerb, der beim ersten Nachlassen der Mengen eingeleitet wurde. Mit dieser Marktbearbeitung des geringsten Aufwandes, d. h. ohne qualitative Beratung, Werbung und Warenpräsentation wurden lediglich preisorientierte "Kunden-Fangaktionen" gestartet. Qualitative Verkäufe fanden in der Regel nur durch gezielte Nachfrage eines qualitativ motivierten Endverbrauchers statt.

Künftig wird sich die Anzahl der Mitspieler in Industrie und Handel reduzieren. Und sie werden qualitative Marketingmaßnahmen fahren müssen, um höhere Erlöse zu generieren und einen Zusatznutzen für den Verbraucher zu etablieren.

Dabei müssen die Stärken und Schwächen des einzelnen Unternehmens analysiert - einschließlich Wettbewerbs- und Kernabsatzanalyse - und daraus das individuelle Erfolgsprofil erarbeitet werden.

Wir benötigen im Facheinzelhandel zur Stabilisierung einer Branche nur kompetente Anbieter, die sich durch hohes Produktwissen, eine große Musterauswahl sowie qualitative Verarbeitung auszeichnen.
aus BTH Heimtex 11/02 (Wirtschaft)