Mattes & Amann
Aus Stroh Gold machen
Meßstetten. Kann aus der Brennnessel ein industriell nutzbarer Gegenspieler der Baumwolle werden? Das Unternehmen Mattes & Ammann versucht in einem weltweit einmaligen Modellprojekt, genau dies herauszufinden. Dem Brennnesselstroh, das im Herbst aus 40.000 Pflänzchen geerntet wurde, stehen nach Angaben des Unternehmens aufregende Zeiten bevor.
Aus den zarten Pflänzchen, die vor einem guten Jahr unter dem Namen Marlene gepflanzt wurden, sind stattliche Brennnesseln geworden: Bis zu 2,50 Meter hoch, bewegen sie sich an diesem Samstagmorgen noch sanft im leichten Wind, der über die Schwäbische Alb streicht. Währenddessen fährt bereits schweres Gerät auf, um unter strahlend blauem Himmel zu ernten: Der mächtige Schwadmäher hinterlässt mit seinen Schneidflügeln eine erste neun Meter breite Schneise in dem einen Hektar großen Marlene-Feld.
Die trotz des widrigen Klimas auf der 800 Meter hohen Alb gewachsenen Nesselpflanzen finden sich nun zu Schwaden auf der Wiese zusammengelegt. Es folgt die Ballenpresse, die die feuchte Marlene-Stroh aufnimmt, mit Hochdruck zu etwa 350 Kilogramm schweren Ballen presst. Im letzten Schritt wird der Brennnesselballen in weißer Folie zu luftdichten Silageballen verpackt. Das Werk ist vollbracht. Vorerst.
Vor rund einem Jahr hat das schwäbische Textilunternehmen Mattes & Ammann 40.000 Setzlinge einer Spezialzüchtung der heimischen Fasernessel (mit dem Namen Marlene) auf einem fußballfeldgroßen Acker angepflanzt. Marlene soll als nachwachsender Rohstoff für die Textilproduktion eine umweltschonende und qualitativ hochwertige Alternative zur ökologisch und ethisch schwierigen Baumwolle sein. Um dies zu gewährleisten, müssen aus der bislang eher in der Heilkunde genutzten Kulturpflanze in industriellem Umfang Fasern gewonnen werden.
Obwohl seit dem 18. Jahrhundert einige Versuche unternommen wurden, die Brennnessel für die Textilherstellung zu nutzen, ließ die wetterabhängige Verarbeitung eine Fasergewinnung auf industriellem Niveau bislang nicht zu. Firmenchef Christoph Larsen-Mattes: "Bei rund 500 bis 1.000 Tonnen Baumwolle, die wir jährlich verarbeiten, mussten wir nun versuchen, Marlenes Verarbeitung von dem wetterabhängigen landwirtschaftlichen und manufakturartigen Charakter in einen verlässlich kalkulierbaren industriellen Prozess zu überführen."
Der bisherige neuralgische Punkt dabei war das Faseraufschlussverfahren, das für die Trennung der eigentlichen Faser von allen hölzernen Bestandteilen sorgt. Die dazu erforderliche Tauröste, während der das Stroh auf dem Feld liegen bleibt, braucht über einen Zeitraum von bis zu zwei Wochen das konstante Wechselspiel von Sonne und Morgentau. Nur so verläuft der biochemische Prozess zum Faseraufschluss optimal. Ein Regenfall - und die ganze Ernte ist unweigerlich verloren.
"In den vergangenen rund 100 Jahren hat man mit der Feldröste gearbeitet und war damit vom Wetter abhängig. Wir wenden demgegenüber erstmals ein ganz anderes Aufschlussverfahren an. Wir silieren, sodass der Faseraufschluss unabhängig vom Wetter in der Silage geschieht. Was wir jetzt gerade hier machen, ist völlig neu und tatsächlich weltweit einzigartige Pionierarbeit," erläuterte Mattes & Ammann-Prokurist Werner Moser. Das hierzu erforderliche Know-how ist in knapp einjähriger projektbegleitender wissenschaftlicher Arbeit durch die Dresdner C.S.P. erarbeitet worden, die speziell für die industrielle Nutzung von Marlene die verfahrenstechnischen Prozesse geplant und die Partner der technologischen Kette zusammengeführt hat.
Indem Marlene direkt nach dem Mähen zu isolierten Silageballen gepresst wird, erübrigt sich der risikoreiche Trockenaufschluss der Feldröste. Stattdessen vollzieht sich in der Silage ein Nassaufschluss: Je nach Feuchtigkeitsgrad des Strohs entwickeln sich Essigsäure- oder Milchsäurebakterien, die die hölzernen Bestandteile restlos zersetzen und in eine Flüssigkeit verwandeln. In der erforderlichen Lagerzeit von knapp zwei Monaten entsteht damit ein Substrat, das die Fasern enthält, die dann aufwändig isoliert und anschließend zu hochwertigem Garn versponnen werden können. Soweit jedenfalls der Entwurf des Projektverlaufs.
Mattes & Ammann ist bei diesem Thema bundesweit führend, kein anderes Unternehmen beschäftigt sich derart intensiv mit den neuen alten Möglichkeiten, die die Brennnessel für die Textilindustrie bieten kann. Mittlerweile hat das Unternehmen bereits eine zweite, nunmehr vier Hektar große Anbaufläche in Ungarn mit Brennnessel-Setzlingen bestückt. Dort ist die Wachstumsperiode durch das wärmere Klima deutlich länger, was zu einem weitaus besseren Ertrag bei der Ernte führen kann.
Für 2014 ist ein 28 Hektar großes Marlene-Feld geplant. Erstmals in der Unternehmensgeschichte, in der man sich bei Mattes & Ammann bislang auf technische Einsatzzwecke in der Automobil-, Möbel- und Bettwarenindustrie konzentrierte, soll aus den Marlene-Fasern auch eine Kleidungskollektion entstehen, die eine Designerin der Fachhochschule Niederrhein in Mönchengladbach entwirft.
aus
Haustex 11/13
(Wirtschaft)