Interview mit Dr. Martin Engelmann, Hauptgeschäftsführer VdL

"Gleichwertige Alternativen zu Titandioxid gibt es nicht"


Durch den Vorstoß einer französischen Behörde soll das wichtige Weißpigment Titandioxid als krebserregend eingestuft werden. Nach Ansicht des Verbands der deutschen Lack- und Druck-farbenindustrie (VdL) würde dies erhebliche Mehrkosten für die Hersteller nach sich ziehen.

BTH Heimtex: Die Preise für Titandioxid steigen und ein Ende ist nicht abzusehen. Nun hat die französische Behörde für Lebensmittelsicherheit, Umwelt- und Arbeitsschutz (Anses) bei der Europäischen Chemikalienagentur auch noch die Einstufung des Weißpigments als beim Einatmen wahrscheinlich krebserregend vorgeschlagen. Ist es nicht allmählich an der Zeit, sich nach Substituten umzusehen?

Dr. Martin Engelmann: Gleichwertige Alternativen zu Titandioxid gibt es nicht. Wenn es sie gäbe, hätten die Farbenhersteller sie schon längst eingesetzt. Pigmente wie Calciumcarbonat, Zinkoxid, Zinksulfid und Bariumsulfat haben technisch und koloristisch nicht annähernd so gute Eigenschaften wie Titandioxid, insbesondere hinsichtlich Deckvermögen und Witterungsbeständigkeit. Hinzu kommt, dass viele dieser Alternativen weniger gut untersucht und teilweise als Gefahrstoff eingestuft sind und deshalb durch Titandioxid ersetzt wurden, zum Beispiel Zinkoxid. Außerdem sind die Alternativ-Pigmente weltweit überhaupt nicht in der erforderlichen Menge verfügbar.

BTH Heimtex: Was bewirkt Titandioxid?

Engelmann: Titandioxid hat einen hohen Brechungsindex und ein sehr großes Lichtstreuvermögen. Es besitzt daher das höchste Deckvermögen aller Weißpigmente. Titandioxid wird sowohl für Farben und Lacke als auch für Druckfarben, Kunststoffe, Fasern und Papier eingesetzt. Außerdem wird es zur Farbgebung in Kosmetika, Lebensmitteln, Pharmazeutika sowie Emaille und Keramik genutzt. Spezielle Formen von Titandioxid werden als UV-Filter eingesetzt, zum Beispiel in Sonnencreme oder als Photokatalysatoren.

Titandioxid ist chemisch und biologisch inert, also reaktionsträge in Verbindung mit anderen Stoffe wie Wasser und Luft. Es wird aus dem in der Natur sehr häufig vorkommenden Erz Ilmenit gewonnen. Titandioxid wird seit etwa 100 Jahren industriell hergestellt und genutzt.

BTH Heimtex: In welchen Bautenfarben ist der Rohstoff enthalten?

Engelmann: In nahezu allen. 80 bis 90 % der auf dem Markt befindlichen Farben und Lacke wären von einer Einstufung von Titandioxid als krebserregend betroffen, weil diese Titandioxid in Mengen größer als 1 % enthalten. Dies betrifft 1,89 Mio. t Farben und Lacke im Wert von 4,8 Mrd. EUR.

BTH Heimtex: Wieviel Titandioxid verbraucht die deutsche Farbenindustrie jährlich?

Engelmann: Die Hersteller von Lacken, Farben und Druckfarben in Deutschland verbrauchen rund 300.000 t Titandioxid pro Jahr und sind damit mit großem Abstand Hauptabnehmer vor Kunstoffen und Papier.

BTH Heimtex: Was macht Titandioxid nach Ansicht der französischen Behörde Anses so gefährlich?

Engelmann: Begründet wird der französische Vorschlag mit der Befürchtung, dass Arbeiter an Lungenkrebs erkranken könnten, wenn sie bei der industriellen Herstellung und Verarbeitung Staubemissionen unter anderem von Titandioxid ausgesetzt sind. Dabei stützt sich die französische Behörde auf eine einzige, mehr als 30 Jahre alte Tierversuchsstudie, bei der Ratten extrem hohen Dosen von Titandioxid-Stäuben ausgesetzt wurden. Solche Studien sind jedoch nach heutigen wissenschaftlichen Standards nicht auf den Menschen übertragbar.

Unzureichend berücksichtigt wurden von Anses auch die vielen epidemiologischen Untersuchungen, die unter realen Bedingungen für den Menschen eine Krebsgefahr aufgrund von Titandioxid ausschließen konnten. In Deutschland gibt es nach Aussagen der zuständigen Berufsgenossenschaft BG Bau & BG RCI keinen einzigen Fall einer anerkannten Berufskrankheit aufgrund von Titandioxid.

BTH Heimtex: Wie kann sich der Verarbeiter schützen?

Engelmann: Um Arbeitnehmer vor einer Staubemission zu schützen, haben die meisten EU-Mitgliedsstaaten bereits Staubgrenzwerte am Arbeitsplatz eingeführt. Es geht in erster Linie um industriellen Arbeitsschutz. Deutschland ist mit einem Grenzwert von 1,25 mg/m3 international Vorreiter. Bei Lacken und Farben kommt hinzu, dass Titandioxid hier in die Bindemittelmatrix eingebunden ist und daher gar nicht eingeatmet werden kann.

BTH Heimtex: Welche Auswirkungen wären in der Branche zu spüren, wenn Titandioxid tatsächlich als gesundheitsgefährdend eingestuft würde?

Engelmann: Eine Einstufung und Kennzeichnung von titandioxid-haltigen Gemischen, also zum Beispiel Farben und Lacke, als potenziell krebserzeugend würde zunächst zu einer erheblichen Verunsicherung bei Heimwerkern und professionellen Verwendern führen - mit negativen Folgen für die Kauf- und Renovierungsbereitschaft insgesamt. Dies würde die mittelständisch geprägte Branche der Farben-, Lack- und Druckfarbenhersteller mit ihren rund 25.000 Mitarbeitern erheblich schädigen.

Hinzu kommen Nachteile für Maler und Heimwerker: Farben und Lacke ohne Titandioxid wären nicht mehr in der gleichen Qualität erhältlich, da Alternativ-Pigmente schlechtere technische und koloristische Eigenschaften aufweisen. Bei Wandfarben zum Beispiel reicht bisher das Auftragen von ein bis zwei Farbschichten für einen deckenden Anstrich aus. Anders ohne Titandioxid: Für eine ausreichende Deckung wären mindestens drei bis vier Schichten notwendig. Hier drohen Mehrkosten.

BTH Heimtex: Was wäre dann mit der Entsorgung?

Engelmann: Die Einstufung hätte auch erhebliche Auswirkung auf die Entsorgung titandioxidhaltiger Produkte. Diese müssten als "gefährlicher Abfall" behandelt werden, was die Kosten für die Entsorgung von Farbeimern, Tapetenresten und so weiter vervielfachen würde. Schließlich dürften auch Umweltzeichen wie der Blaue Engel bei einer Einstufung als kanzerogen Kategorie 2 nicht mehr vergeben werden. Für die Verbraucher fiele damit ein wichtiges Unterscheidungs- und Qualitätsmerkmal weg.

BTH Heimtex: Wie stehen Ihrer Meinung nach die Chancen bei der Einstufung?

Engelmann: Das ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt schwer zu sagen. Wir sehen allerdings, dass die mit dem Vorschlag verbundenen Probleme zunehmend zur Kenntnis genommen werden. Die endgültige Entscheidung liegt bei der Europäischen Kommission und dem Reach-Regelungsausschuss. Natürlich arbeiten wir daran, dass unsere Argumente in diese Diskussion einfließen und gehört werden.

BTH Heimtex: Was unternimmt der Verband der deutschen Lack- und Druckfarbenindustrie konkret?

Engelmann: Wir fordern von der Politik, dass sie bei der Entscheidungsfindung auf EU-Ebene die wissenschaftliche Begründung des Vorschlags kritisch überprüft und die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen einer Einstufung im Blick behält. Der VDL setzt sich mit aller Entschiedenheit gegen eine Einstufung des Weißpigments ein. Als Hauptabnehmer sind wir Hauptbetroffene und haben frühzeitig den Kontakt zu ebenfalls tangierten Partnerverbänden und Branchen gesucht.

BTH Heimtex: Sie haben auch die "Initiative pro Titandioxid" gestartet. Was steckt dahinter?

Engelmann: Die von uns ins Leben gerufene Initiative informiert umfassend über den europäischen Prozess, deckt Hintergründe auf und steht Interessierten jederzeit offen. In Brüssel und Berlin haben wir Türen geöffnet und das Thema positioniert. Mit einem Memorandum von knapp 100 Herstellern haben wir ein entschlossenes Signal ausgesendet, das auch in Berlin gehört wurde. Und wir werden weiterhin diesen Unsinn als solchen benennen und uns mit allen Mitteln dagegen wehren.

BTH Heimtex: Nun ist Titandioxid bei weitem nicht der einzige Rohstoff, der Industrie und Handwerk Sorgen bereitet. Neben Titandioxid steigen auch die Preise für andere wichtige Rohstoffe. Was ist der Grund für die Entwicklung?

Engelmann: Es gibt gerade in speziellen Bereichen wie zum Beispiel Druckfarben Angebotsverknappungen durch technische Probleme der Produktionsstätten, beispielsweise bei den Titandioxid-Herstellern. Das generell höhere Preisniveau ist auf die bessere Weltkonjunktur zurückzuführen, die vor allem die Nachfrage nach langlebigen Wirtschaftsgütern erhöht. Autos oder Elektrogeräte benötigen vermehrt höherwertige Lacke mit speziellen Rohstoffen, die sich zum Teil erheblich verteuern.

cornelia.kuesel@snfachpresse.de
aus BTH Heimtex 01/18 (Wirtschaft)