Amtico
"Unsere Flexibilität hilft uns jetzt besonders"
Corona, Brexit, Container- und Rohstoffverknappung sowie strukturelle Marktveränderungen: Der LVT-Pionier kämpft mit vielen Problemen, die 2020 den Umsatz gedrückt haben. Im Interview erklären Geschäftsführer Oliver Kluge, Deutschland-Vertriebsleiter Dominik Wichert und Anna Schneider aus dem Markting, warum man trotzdem zuversichtlich in die Zukunft schaut.
BTH Heimtex: Viele Bodenbelagshersteller haben im vergangenen Jahr vom coronabedingten Renovierungsboom profitiert: Amtico auch?
Dominik Wichert: Wir haben aus diesem Bereich 2020 auch außergewöhnlich viele Aufträge erhalten; aber profitiert haben wir vom Renovierungsboom unter dem Strich nicht. Denn die erhöhte Aktivität im Privatsektor konnte die starken Rückgänge im für uns wichtigen Hotelsegment nicht auffangen. Viele Projekte wurden dort aufgrund der Einschränkungen und Folgen der Corona-Pandemie nicht umgesetzt.
Minus 10 % in D/A/CH
Oliver Kluge: Wir haben 2020 auf dem D/A/CH-Markt insgesamt ein Umsatzminus von 10 % hinnehmen müssen. Zu schaffen gemacht haben uns die Schwankungen im Objektbereich, speziell im Bereich Retail und Hotel. Österreich war ebenfalls rückläufig, die Schweiz hingegen relativ stabil. Unser Außendienst war für zwei Monate, das Management für sechs Monate in Kurzarbeit. Die Servicemitarbeiter sowie der Innendienst in der Zentrale in Neuss haben im Büro oder Homeoffice komplett durchgearbeitet: Wir waren also immer voll arbeitsfähig und für unsere Kunden erreichbar.
2021 ist ganz gut angelaufen. Wir haben zahlreiche Projekte mit unseren Kunden im Vorlauf. Doch ob diese auch tatsächlich umgesetzt werden können, ist heute wegen der Corona-Pandemie ungewiss. Ein Beispiel: Für Neubauten werden unter anderem Stahlbetonbauer benötigt, die häufig aus dem europäischen Ausland kommen, was aufgrund der Reisebeschränkungen aktuell schwierig ist. Mit solchen Faktoren, die unsicher geworden sind, und die unsere Kunden und wir nicht beeinflussen können, haben wir heute überall zu kämpfen. Derzeit ändert sich permanent irgendwo irgendetwas in unserem Geschäft. Das macht das Planen zu einer Herausforderung.
BTH Heimtex: Herr Kluge, vor einem Jahr haben Sie uns gesagt, die Welt nach Corona wird eine andere sein. Wir haben die Pandemie zwar noch nicht hinter uns gelassen. Trotzdem: Ist die Welt heute tatsächlich eine andere?
Kluge: Ja, ich denke schon, wenn man sich die einzelnen Bereiche und Facetten unseres Geschäftes anschaut. Die internationale Reisetätigkeit ist fast zum Erliegen gekommen. Wir haben merklich weniger persönliche Kontakte; vieles findet digital aus dem Homeoffice heraus statt. Unsere Marketingmaßnahmen sowie die Kommunikation in den Märkten und Segmenten sowie zu unseren Kunden haben sich fundamental verändert und ins Digitale verschoben.
Und dann baut sich gerade eine Welle auf, die wir momentan noch gar nicht überblicken können. Die Insolvenzen in den Segmenten Einzelhandel, Hotel und Restaurants nehmen zu. Das trifft auch unsere Branche: Hersteller, Händler, Handwerker und Bauherren, die nicht gut gewirtschaftet haben, werden die Pandemie schwer überstehen. Das sind Folgen der Pandemie, die die Branche strukturell verändern. Und deswegen kann man tatsächlich sagen, dass unsere Welt nach Corona eine andere geworden ist.
BTH Heimtex: Wie reagieren Sie auf die Schwäche einzelner Segmente und die Veränderungen Ihrer Kundenstruktur?
Vertrieb ist breit aufgestellt
Wichert: Glücklicherweise haben wir uns schon seit Längerem breit im Markt aufgestellt und dafür auch viel in Vertrieb und Sortiment investiert. Wir entwickeln uns permanent weiter, weil sich die einzelnen Marktsektoren auch verändern. Das hilft uns in einer solch schwierigen Phase. Hospitality und Leisure sowie Retail haben momentan schon deutliche Probleme. Dort erwarten wir weitere Rückgänge, und auch die Insolvenzen werden bis Ende des Jahres zunehmen. Das können wir in anderen Segmenten wie Healthcare, Büro und Mietwohnungsbau ein Stück weit auffangen, weil unser Geschäft heute gleichmäßiger verteilt ist.
Kluge: Außerdem haben wir das Business stärker selbst in die Hand genommen. Wir haben heute einen viel direkteren Zugang zum Markt über Architekten, Bauherren und Verarbeiter als früher. Selbstverständlich machen wir mit den wenigen Partnern im Großhandel nach wie vor ein gutes und wichtiges Geschäft; es ist aber merklich weniger geworden im
Vergleich zu vor zehn Jahren.
BTH Heimtex: Ihre LVT-Produkte werden zum ganz großen Teil im Amtico-Stammwerk im englischen Coventry produziert. Welche Auswirkungen hat der Brexit auf Ihr Geschäft?
Brexit strapaziert die Nerven
Kluge: Zwischen der finalen Entscheidung über den Brexit am 23. Dezember vergangenen Jahres und den ersten Wochen 2021 hat der Brexit und seine Folgen unseren Kunden und uns ganz schön Nerven gekostet. Trotz unserer intensiven Vorbereitungen und personeller Aufstockung ist vieles - zum Beispiel Kosten und Dokumentation - doch anders gekommen, oder ist nicht eindeutig geregelt gewesen. Oder keiner der Verantwortlichen konnte uns klare Auskünfte geben.
Wichert: Es hat schon bis in den Februar hinein gedauert, bis alle Beteiligten - dazu zähle ich auch die Zollmitarbeiter an den Grenzen - eine neue Routine entwickelt hatten.
BTH Heimtex: Hatten Sie wegen dieser Neuorientierungen auch Lieferverzögerungen?
Kluge: Wir hatten im Januar in Kontinentaleuropa eine Lieferverzögerung von etwa einer Woche, die sich mittlerweile reduziert hat, aber noch nicht auf dem Niveau ist, das wir haben wollen. Das hängt aber auch nicht nur mit dem Brexit zusammen
BTH Heimtex: Sie sprechen die Probleme bei Lieferketten, Containern und Rohstoffen an?
Container kommen vier Wochen später
Kluge: Richtig. Es ist momentan ein regelrechtes Vabanquespiel Ware, Vorprodukte wie Prints oder Rohstoffe per Schiffscontainer aus Asien zu bekommen. Wir haben immer eine gewisse Reserve. Wenn sich allerdings Containerlieferungen um vier und teilweise mehr Wochen verzögern, weil einfach keine Container oder die entsprechenden Schiffspassagen zu bekommen sind, stellt das unsere Branche vor Herausforderungen. Glücklicherweise produzieren wir unser Hauptvolumen in Europa, und da sind die Probleme deutlich kleiner.
Wichert: Die Frachtraten für Container von Asien nach Europa sind während der Corona-Pandemie deutlich gestiegen. Seit Herbst vergangenen Jahres haben sie sich noch einmal rasant erhöht und liegen jetzt um bis zu 400 % höher als Anfang 2020. In manchen Auktionen werden noch höhere Summen aufgerufen
Weichmacher doppelt so teuer
Kluge: In den Bereichen PVC und Weichmacher gibt es weltweit auch eine starke Verknappung, unter anderem ausgelöst durch ein Feuer im Werk der BASF in Ludwigshafen. Der Preis beispielsweise für eine Tonne Weichmacher hat sich verdoppelt. Unser Werk in England benötigt allein an einem einzigen durchschnittlichen Produktionstag mehrere Tonnen Weichmacher.
BTH Heimtex: Können Sie einschätzen, wann sich das Angebot an Containern wieder normalisiert?
Kluge: Das ist schwer zu sagen, weil sich niemand das Problem zu 100 % erklären kann.
Wichert: Es wird sicherlich noch eine Weile dauern, bis sich die Abläufe wieder normalisieren. Wir setzen darauf, dass alle Beteiligte verantwortungsvoll daran arbeiten, dass die Lieferketten so schnell wie möglich wieder reibungslos und wie gewohnt ineinandergreifen.
BTH Heimtex: Diese ganzen globalen Schwierigkeiten verursachen Kosten: Geben Sie diese an Ihre Kunden auf den deutschsprachigen Märkten weiter und erhöhen die Preise?
Vorerst keine Preiserhöhungen
Kluge: Momentan gibt es bei Amtico keine Preiserhöhungen, weil wir gut gewirtschaftet haben, intern noch kostenbewusster agieren und davon ausgehen, dass sich die Themen wieder beruhigen werden. Das kann allerdings coronabedingt in den nächsten Wochen schon wieder ganz anders aussehen. Wie wir hören, haben beispielsweise viele Großhandelslieferanten bereits im Februar und März die Preise hochgesetzt.
BTH Heimtex: Sie hatten in der Vergangenheit angekündigt, Ihre Lagerkapazitäten in Kontinentaleuropa weiter auszubauen. Wie ist hier der aktuelle Stand?
Kluge: Seit Mai operieren wir für Kontinentaleuropa aus unserem neuen Hauptlager in Bremen. Dort verfügen wir über 4.500 Palettenstellplätze. Das macht uns unabhängiger von den Folgen des Brexit und den Lieferungen aus Großbritannien generell und versetzt uns in die Lage, unsere Lieferzeiten weiter zu verbessern. In England verfügt unser neues großes Lager über 30.000 Stellplätze.
BTH Heimtex: Sprechen wir über Ihr Sortiment: Wie läuft der relativ junge Sortimentsbereich Teppichfliese?
Kluge: Bei Carpet sind wir auf einem guten Weg, aber noch lange nicht da, wo wir sein möchten und auch sein können. Wir müssen auch hier am Ball bleiben. Aber wir Hartbelagsleute mögen das Textile mittlerweile richtig gerne
BTH Heimtex: Wie groß ist der Umsatzanteil der Teppichfliese bei Ihnen mittlerweile?
Kluge: In der D/A/CH-Region sind wir noch im einstelligen Prozentbereich. Der Markt ist umkämpft, und es gibt einige gut Etablierte. Unser Anspruch ist es, hier weiter nach vorne zu kommen, wir planen derzeit weitere Neuerungen für die Jahre 2021 und 2022.
BTH Heimtex: Stark eingeschränkt ist momentan für alle Hersteller die klassische Vertriebsarbeit. Wie geht Amtico mit den Corona-Beschränkungen um?
Vertrieb läuft on- und offline
Wichert: Alle Mitarbeiter sind unterwegs - natürlich unter Einhaltung aller Corona-Regeln. Aber vieles läuft digital, weil viele Mitarbeiter unserer Kunden im Homeoffice sind.
BTH Heimtex: Digitale Kommunikation mit Bestandskunden ist das eine. Wie gehen Sie im Neukunden-Geschäft vor, besonders mit denen, die Ihre Produkte noch gar nicht kennen?
Wichert: Wir sprechen Neukunden klassisch per Post und digital über Social Media- und E-Mail-Marketing an, um sie dann digital zu beraten. Das funktioniert relativ gut. Wir schicken Ihnen Kollektionen zu und gehen die Produkte am Bildschirm gemeinsam durch. Bei Gesprächspartnern, die keine Produkte Anfassen können, flacht das Interesse schnell ab. Für große Unternehmen ist es heute völlig normal, Gespräche online zu führen. Anders ist das bei kleineren Kunden; mit denen wachsen wir gemeinsam in die vermehrte digitale Kommunikation hinein.
Kluge: Das merken wir auch an unserem Musterversand, der wieder stark angestiegen ist und aktuell bei über 500 Aussendungen pro Woche liegt.
Anna Schneider: Wir führen zusammen mit Partnern auch Webinare durch, beispielsweise für Kunden im Healthcare-Bereich. Die sind sehr erfolgreich und werden gut angenommen. Wir hatten zwischen 20 und 170 Teilnehmern, die bis zu anderthalb Stunden dabei geblieben sind. Darunter Innenarchitekten, Facility-Manager oder leitende Angestellte aus Krankenhäusern.
BTH Heimtex: Gibt es 2021 neue Produkte und Kollektionen?
Schneider: Wir haben die Kollektion Marine für den Schiffsbau neu aufgelegt und Amtico Form mit der 0,7 mm-Nutzschicht mit neuen Dekoren und Verlegemustern auf 36 Artikel erweitert. Amtico Form bieten wir jetzt auch in den Standardgrößen mit Akustikrücken an. Das Trittschallverbesserungsmaß beträgt 19 dB. Damit bedienen wir die große Nachfrage beim Thema Akustik.
Unsere Looselay-Serie Access kommt diesen Sommer mit acht neuen Produkten und bietet dann insgesamt 21 Positionen. Die lose liegenden LVT sind wunderbar kombinierbar mit unseren Teppichfliesen: Da sind spannende Designs möglich.
Stichwort Teppichfliesen: Die Kollektion erweitern wir in diesem Jahr ebenfalls. Im September schließlich relaunchen wir die Spacia-Kollektion mit der 0,5 mm-Nutzschicht und erweitern sie mit 36 neuen Designs. Schwerpunkt der Spacia-Neuheiten liegt auf Stein- und Fliesenoptiken.
| Das Gespräch führte Jochen Lange
aus
BTH Heimtex 05/21
(Wirtschaft)