IVK & Normung
Normen führen ihn um die ganze Welt
Der Chemiker Dr. Udo Windhövel ist seit 30 Jahren in der Bodenbranche tätig. Im Anschluss an seine Tätigkeit als Leiter Forschung und Entwicklung bei Henkel/Thomsit gründete er ein Beratungsunternehmen. Den Industrieverband Klebstoffe (IVK) berät er seitdem in Normungsangelegenheiten und vertritt die deutsche Klebstoffindustrie weltweit auf Normensitzungen. Im Interview gibt er Einblicke in seine Arbeit.FussbodenTechnik: Herr Dr. Windhövel, wie kam es zu der Zusammenarbeit mit dem IVK? Was sind die Schwerpunkte Ihrer Arbeit und welche Ziele verfolgen Sie?
Dr. Udo Windhövel: Zunächst einmal ist es etwas Besonderes, dass ein Industrieverband sich so stark für Normung engagiert. Der IVK versteht sich aber nicht nur als Lobbyist, sondern sehr stark auch als Dienstleister für seine Mitglieder. Natürlich liegt die Expertise bei den Forschern und Technikern in den Entwicklungsabteilungen der Mitgliedsunternehmen. Aber auf sie kommen seit der Jahrtausendwende immer mehr Aufgaben administrativer Art bei gleichzeitig schwindender Personaldecke zu, was sich an einer Art Normungsmüdigkeit in der Industrie zeigt, die nicht ohne Folgen bleibt.
Ein Beispiel: Vor zwölf Jahren war das Entsetzen unter den deutschen Herstellern groß, als auf japanische Initiative eine ISO-Norm für Holzklebungen entstand, die hierzulande niemand kannte. Sie war so breit angelegt, dass sie für alle Klebstoffe dieser Welt Gültigkeit besaß. Sie enthielt Prüfungen nach Klimalagerung unter extremen Bedingungen, die in Europa niemand prüfen würde oder je geprüft hatte. Erst später wurde klar, dass die neue Norm von Yamaha initiiert war, denen die Klaviere beim Transport bei extremen Temperaturen nach Sibirien auseinanderfielen. Nur war die Norm im Anwendungsbereich nicht eingeschränkt worden auf Klebstoffe für den Instrumentenbau
Das war der Anlass für den IVK zur Einrichtung einer "Kompetenzplattform Normung". Zeitlich fiel die Entscheidung dafür mit dem Beginn meiner Selbstständigkeit zusammen. Ich selbst hatte da bereits 20 Jahre Erfahrung in der Normung und so wurde mir die herausfordernde Aufgabe zuteil, ein Informationsnetzwerk Normung im Verband für seine Mitglieder zu organisieren und die Interessen der deutschen Klebstoffindustrie europäisch und auch international zu vertreten.
FT: Wie häufig sind Sie unterwegs und wie muss man sich eine solche Norm-Veranstaltung vorstellen?
Dr. Windhövel: Meine Reisetätigkeit hält sich sehr in Grenzen. Schon vor Corona fanden viele Sitzungen, vor allem die nationalen, als Web-Meeting statt. ISO-Sitzungen gibt es einmal im Jahr. Die Klebstoffe sind international bei den Kunststoffen ("Plastics") aufgehängt und dort treffen sich dann bei einer ISO-Jahrestagung mehr als 250 Experten aus der ganzen Welt. Europäische Plenarsitzungen für Klebstoffe finden einmal jährlich in Madrid statt, da das Sekretariat von den Spaniern gestellt wird. Die einzelnen Arbeitsgruppen tagen nur bei Bedarf.
FT: Können Sie ein Beispiel für ein erfolgreiches IS0-Normvorhaben nennen?
Dr. Windhövel: Zunächst sind wir mehr als Beobachter an die ISO-Normung herangetreten, wollten für uns ungünstige Projekte verhindern oder aber so mitgestalten, dass sie den deutschen Herstellern helfen. Dann haben wir aber angefangen zu überlegen, welche DIN- und/oder EN-Normen uns wichtig sind und haben daraus ISO-Normen entwickelt. Bereits vor sechs Jahren haben wir die wichtige ISO 17178 für Parkettklebstoffe und jüngst die ISO 22636 fertigstellen können, wodurch nun die europäischen Anforderungen an Bodenbelagsklebstoffe weltweit gelten.
FT: Kann man sich mit so vielen Vertretern aus aller Welt überhaupt auf einen Normungstext einigen?
Dr. Windhövel: Ja, das geht oft sogar überraschnd gut. Wenn man sich nur einmal jährlich trifft, ist eine gute Vorbereitung das Wichtigste überhaupt. Wegen der sprachlichen Barrieren ist der gesamte Abstimmungsprozess ohnehin sehr stark formalisiert. Das hilft. Die Konferenzsprache ist Englisch, aber nicht jeder Experte spricht die Sprache gleich gut. Das macht dann manchmal Mühe.
FT: Was ist die größte Herausforderung in der Normungsarbeit?
Dr. Windhövel: Die größte Herausforderung ist es, neue Projekte einer ausreichenden Zahl von Ländern schmackhaft zu machen. Wenn wir einen neuen Projektvorschlag einbringen, dann bedarf es erst einmal einer Mehrheitsentscheidung. Die ist nicht so schwierig zu bekommen. Weitaus schwieriger ist es, vier aktive Mitstreiter zu finden. Ein Normungsprojekt wird nur dann genehmigt, wenn fünf ISO-Vollmitglieder ihre aktive Unterstützung zusagen und namentlich einen Experten benennen.
FT: Werden Sie als deutscher Vertreter gehört?
Dr. Windhövel: Ja, jeder, der sich in der entsprechenden Working Group zu Wort meldet, wird gehört. Die Frage ist nur, ob der Vortragende sich auch verständlich machen kann. Wie gesagt, das scheitert manchmal an der Sprache. "Asiatisches" Englisch ist teils schwer verständlich.
FT: In welche Länder dieser Welt hat Sie die Normungsarbeit geführt?
Dr. Windhövel: Veranstalter einer ISO-Jahrestagung ist immer ein anderes Mitgliedsland. ISO-Mitgliedsländer sind über die ganze Welt verteilt. Wir tagen oft in Asien, einmal war ich in Indien, einmal in den USA (Hawaii) und nicht selten sind wir auch in Europa.
FT: Welche Möglichkeiten der Einflussnahme haben Sie?
Dr. Windhövel: Der Normungsprozess verläuft immer nach dem gleichen Schema. Wie die anderen Mitgliedsländer auch, hat Deutschland eine Stimme. Die gilt es, in jeder Stufe des Entwicklungsprozesses einzubringen. Man gibt seine Stimme ab und stimmt für oder gegen einen Normentwurf und hat zugleich die Möglichkeit, Kommentare abzugeben. Diese werden in Tabellenform erfasst. Die Tabellen werden in jeder Sitzung durchgesprochen. Von den Experten wird entschieden, ob ein Punkt, den man angemerkt hat, angenommen oder abgelehnt wird. Das Schema startet mit definierten Phasen: Einem ersten Entwurf über einen Arbeitsentwurf, gefolgt von einem Gremienentwurf. Dann kommt mit dem sog. DIS (draft international standard), das wichtigste Stadium, ein (fast) fertiger Normentwurf, der höchste Aufmerksamkeit erfordert, da im nächsten Schritt (FDIS = final DIS), nur noch redaktionelle Änderungen oder Ablehnung möglich sind. Ansonsten wird die Norm veröffentlicht.
FT: Wenn Sie der Überzeugung wären, dass sich ein Normungsentwurf in eine zweifelhafte Richtung entwickelt, können Sie andere Ländervertreter ansprechen?
Dr. Windhövel: Das ist der Vorteil der persönlichen Teilnahme. Sowohl in der Sitzung als auch in Pausengesprächen besteht die Möglichkeit, Missverständnisse zu klären und Überzeugungsarbeit zu leisten. Im Laufe der Jahre hat man seine persönlichen Kontakte und weiß auch ungefähr, wie die anderen Ländervertreter ticken, was manchmal dabei hilft, Allianzen einzugehen.
Die nationalen Experten, die ihr Land in einer ISO-Sitzung vertreten, können nicht auf jedem Gebiet Experten sein. Wenn z. B. über Klebstoffe für die Elektronikindustrie gesprochen wird, dann bin ich kein Experte, muss mich sehr gut vorbereiten auf das Thema. Wenn ich hingegen über Parkettklebstoffe spreche, dann stoße ich überwiegend auf Nicht-Experten. Es gibt dann zwei Möglichkeiten:
Entweder sie nicken (zustimmend) oder sie sagen gar nichts. Ganz schwierig wird es bei starken Statements von Nicht-Experten, die am Thema vorbeigehen. Damit ist dann erst einmal schwer umzugehen. In solchen Fällen helfen wieder die Kaffeepausen. Es ist auf jeden Fall eine bunte Geschichte. Wir haben das große Glück, dass unser Obmann Engländer ist, der natürlich in seiner Muttersprache unterwegs ist. Das hilft sehr in der Kommunikation.
FT: Stimmen Sie sich vorher mit anderen deutschen Verbandsvertretern ab?
Dr. Windhövel: Das entspricht im Grunde genommen der Natur der europäischen und der internationalen Normung. Ich habe als deutscher Vertreter eine Stimme und dafür brauche ich natürlich ein Mandat. Das hole ich mir in den entsprechenden Gremien des DIN und / oder des IVK. Im DIN gibt es ein sog. Spiegel-Gremium zur internationalen Klebstoff-Normung, in dem die deutschen Herstellerinteressen zusammenlaufen. Dieses Gremium legt das fest, was ich dann international vertrete.
Im IVK gibt es die Technischen Kommissionen und vor allem den Technischen Ausschuss (TA), dem ich regelmäßig über den Stand der Normung berichte. Vom Technischen Ausschuss beziehe ich die Expertise der deutschen Fachleute. Hier frage ich, wer kann mir helfen, den japanischen Antrag auf Herz und Nieren zu prüfen und die richtigen Argumente für die nächste Sitzung in Chengdu liefern. Ich brauche also ein Mandat und Expertise, je besser man da vorbereitet ist, umso erfolgreicher kann man in der Sitzung auftreten.
FT: Wie wichtig ist es, in der Normungsarbeit persönliche Präsenz zu zeigen?
Dr. Windhövel: Es geht gar nicht ohne, sonst läuft die Normung an einem vorbei. Ich stelle immer wieder fest, dass manchmal Länder etwas kommentieren, dann ist aber in der eigentlichen Sitzung niemand, der es erklären kann. Dann wird ein Kommentar nicht verstanden oder vielleicht auch bewusst nicht verstanden. Die Wahrnehmung ist eine völlig andere, wenn der Einsprechende persönlich anwesend ist.
Aus bekannten Gründen hatten wir jüngst die allererste virtuelle ISO-Sitzung, die an sich hätte in Stockholm stattfinden sollen. Es war extrem schwierig, weil sie auf 14 Uhr europäischer Zeit gelegt war. Für die japanischen Teilnehmer ging die Sitzung bis nach Mitternacht und die Amerikaner waren noch gar nicht aufgestanden. ISO-Jahrestagungen und auch Sitzungen, die über mehrere Tage gehen, sind wegen der Zeitverschiebungen nur ganz schwierig virtuell zu organisieren.
FT: Was waren amüsante oder überraschende Erlebnisse bei Ihrer Normungsreisen?
Dr. Windhövel: Ich hatte eine Normungreise an den Ort Suzhou, 100 km westlich von Shanghai gelegen. Suzhou ist eine chinesische Stadt mit 5 Millionen Einwohnern. Man kann von Shanghai mit dem Taxi, Zug oder Bus eine Stunde fahren. Man merkt überhaupt nicht, dass man aus der Stadt herausfährt, die Häuser werden nur niedriger. In Shanghai findet man noch englische Bezeichnungen und Schilder. An diesem Tagungsort konnte man gar nichts mehr lesen, z. B. auch keine Speisekarte. So kann man nur noch auf den Nachbarteller zeigen und signalisieren, dass man das auch möchte. Das war eine große Herausforderung.
Ich war 2006 schon einmal für Henkel in Peking. Damals fuhr fast jeder Fahrrad. Zehn Jahre später zeigte sich mir in China ein komplett anderes Bild: Alle fuhren Elektroscooter - es wimmelte überall von diesen Rollern - auf dem Bürgersteig und auf der Straße. Weil der Elektroscooter ja batteriebetrieben ist, fahren die Einheimischen selbst um Mitternacht in der Dunkelheit ganz ohne Licht. Als Mitteleuropäer hat man immer das Gefühl, man wird im nächsten Moment überfahren. Man gewöhnt sich glücklicherweise daran und lernt die nahenden Fahrzeuge einzuschätzen.
Vor dem Hinflug 2017 nach Südkorea stellte ich im Flughafen Frankfurt nach der Sicherheitskontrolle fest, dass ich außer 100 EUR an Bargeld über keine Zahlungsmittel verfügte. Kredit- und Bankkarten lagen 100 km entfernt zu Hause im Büro noch auf dem Kopierer. Zurück nach Hause konnte ich nicht mehr. Für einen Kurier war die Zeit bis zum Abflug ebenfalls zu kurz. Was also tun in einer solchen Situation? Wie gut, wenn man Kollegen hat, die einem hilfreich zur Seite stehen.
Dr. Udo Windhövel zur Person
Dr. Udo Windhövel ist promovierter Diplom-Chemiker und stand von 1989 bis 2009 in Diensten von Henkel, wo er als Leiter Produktentwicklung und Anwendungstechnik verantwortlich war. Seit Oktober 2009 vertritt Dr. Windhövel den Industrieverband Klebstoffe in der internationalen Normungsarbeit. Seine Idee war es, die Normungsarbeit der Kollegen zu übernehmen, die im Tagesgeschäft immer hinten herunterfällt. Den Bodenbelagshersteller Tarkett vertrat Dr. Windhövel für einige Jahre in der Normungsarbeit. Im Fachverband der elastischen Bodenbelagshersteller (FEB) leitete er zwei Jahre lang den Arbeitskreis Technik.
aus
FussbodenTechnik 03/21
(Wirtschaft)