Fachseminar bei der Marburger Tapetenfabrik
Intensiv-Kurs rund um die Tapete
Die Fachseminare der Marburger Tapetenfabrik sind eine Institution in der Branche, permanent ausgebucht und eng verbunden mit einem Namen: Lothar Steinbrecher, Leiter der Anwendungstechnik des Familienunternehmens, und gerne als "Tapetenpabst" bezeichnet. Kompetent, leicht verständlich und auch nach 37 Jahren noch voller Begeisterung für das Produkt bringt er den Schulungsteilnehmern an zwei Tagen profundes Know-How rund um die Tapete und Tapezieren bei. BTH Heimtex-Redakteurin Marianne Nehm war live dabei.
Eine bunt gemischte Gruppe trifft sich an einem kühlen Frühlingsmorgen bei der Marburger Tapetenfabrik zum Seminar; alle an der Tapete interessiert, wissbegierig und mit unterschiedlicher Motivation. So wollen der Inhaber eines mittelgroßen Malerbetriebs und sein junger Mitarbeiter sich mehr mit Tapeten befassen: "Wir machen viel Lasurtechniken, ich kann sie schon nicht mehr sehen", der Entwicklungsleiter eines Vliespapierherstellers und zwei Kolleginnen aus dem Vertrieb wollen mehr über das Produkt erfahren, zu dem sie den Rohstoff liefern, eine angehende Großhandelskauffrau im zweiten Lehrjahr verkauft Tapeten, "hat aber eigentlich keine Ahnung", außerdem dabei sind unter anderem ein Kaufmann, der seit vielen Jahren mit Tapeten handelt, vier gestandene Maler- und Lackierermeister, zwei Gesellen und zwei Malerlehrlinge, ein Lehrer, der sozial gefährdete Jugendliche unterrichtet und ein Gesundheitsberater.
Der Mix ist für den erfahrenen Seminarleiter Lothar Steinbrecher überhaupt nichts Fremdes: "In fast allen Gruppen sind neben Handwerkern wie Malern und Raumausstattern auch Verkäufer aus dem Groß- und Einzelhandel dabei, Berufsschullehrer oder andere aus vielerlei Gründen interessierte Menschen."
Theorie ist allen Handwerks Anfang. Das erfahren die Probanden sogleich: ein prall gefüllter Ordner liegt auf jedem Platz. Während des Seminars werden sie erkennen: Was immer über die Anwendung von Tapeten wissenswert sein könnte, ist in diesem Nachschlagewerk zu finden. Und es bleibt nicht bei grauer Theorie - Steinbrecher schafft es, an diesen zwei Tagen jedes einzelne Stichwort mit Leben zu erfüllen.
Nach einem gemeinsamen Frühstück und dem obligatorischen Gruppenfoto präsentiert Lothar Steinbrecher zum Einstimmen erst einmal einen Videofilm über die Tapetenherstellung. Die verschiedenen Drucktechniken werden erläutert, Siebdruck, Tiefdruck, Prägedruck, Flexodruck, Kombinationen daraus, da diese auch miteinander kombiniert werden können. Wie das in der Praxis aussieht, erschließt sich bei der Werksbesichtigung. Die Teilnehmer sind beeindruckt, von der Produktion, aber auch von den Lagerkapazitäten, die gerade um ein 38 m hohes Gebäude mit großem Automationsgrad ergänzt werden. Besonderer Blickfang ist die "Museumsnische", in der alte Tapeten und Prägewalzen von Marburg zu sehen sind, darunter das opulente Dessin "Arte" aus den Siebzigern, coloriert von Hilde Eitel. Der jetzt 95-jährigen Mutter von Marburg-Gesellschafter Ullrich Eitel wurde mit der "Eisernen Hilde", einer Skulptur vor dem Verwaltungsgebäude, ein amüsantes Denkmal gesetzt.
Jedes Thema wird Schritt für Schritt erarbeitet
Nach dem Mittagessen wird es Ernst: "Warenkunde - Eigenschaften - Einsatzgebiete, Erläuterungen zu verschiedenen Produktgruppen der heutigen Wandbekleidungsmaterialien nach den Euro-Normen". Im Ordner wird innerhalb der Rubrik Kennzeichnung das Blatt "European Standard EN 235 Symbols" aufgeschlagen. Steinbrecher hakt bei den Kursteilnehmer nach: "Wo liegen die Unterschiede in der Waschbarkeit? Gibt es einen Unterschied zwischen Wasserbeständigkeit und Waschbarkeit? Was heißt das, wenn da zwei Wellenlinien für "waschbeständig" stehen?"
Schritt für Schritt wird das Thema erarbeitet. Und alle können es jetzt und später in ihrem Kompendium schwarz auf weiß nachlesen, was Waschbeständigkeit bedeutet: "Fertige Wandbekleidung, von deren Oberfläche Schmutz und einige wasserlösliche Flecke aus dem Haushaltsbereich mit einem feuchten Tuch und Seifenwasser vorsichtig entfernt werden können. Öle, Fette und lösungsmittelhaltige Flecken können erwartungsgemäß nicht entfernt werden."
Nächster Punkt "Ansatz des Musters": Ansatzfrei, gerader Ansatz, versetzter Ansatz, gestürztes Kleben. Vier klare Anweisungen sollte man meinen, aber Lothar Steinbrecher versteht es, mit dem Hochhalten von Tapetenstücken und konkreten Fragen nach dem jeweiligen Ansatz die Maler herauszufordern. "Ansatzfrei" sei ein Verkaufsargument und entsprechend würden manche Hersteller auch schon mal schummeln. Nicht immer sind die Tapeten wirklich ansatzfrei, wenn es auf dem Einlegezettel steht: "Gehen Sie doch mal in den Baumarkt und schauen Sie nach".
Der Ansatz - ein leidiges Thema, ob beim Handwerker oder beim Verkäufer, da der eventuell anfallende Verschnitt berechnet und kalkuliert werden muss. Wer zwei Tage bei Steinbrecher das Handwerk paukte, hat wertvolle Tipps und Trick für den Umgang mit dem heiklen Thema - weiß zum Beispiel, dass "Gestürztes Kleben" für Unis mit minimaler Farbschattierung gilt oder bei Tapeten in Spachteloptiken.
Das Frage- und Antwortspiel ist offensichtlich das Prinzip des erfahrenen Seminarmannes. "Welchen Kleber nehmen Sie dafür? Welches Gerät benutzen Sie zu diesem oder jenem Zweck?" Lothar Steinbrecher schafft es so, die Teilnehmer aus ihrer eigenen Praxis heraus zur Erkenntnis des richtigen Verarbeitens zu bringen. Der Zeitplan ist eng und muss trotz oder vielmehr wegen seiner Ausführlichkeit straff durchgezogen werden. Mit Zuckerbrot und Peitsche führt Steinbrecher durch das Seminar. Zuckerbrot, wenn er fragt, erklärt oder eine seiner zahlreichen Anekdoten erzählt, Peitsche, wenn jemand eine Frage aufwirft, die nicht zu hundert Prozent in den Verlauf passt. Der wird vertröstet, "Zu diesem Thema kommen wir später", oder, wenn er gar zu hartnäckig nachhakt, in seiner Diskussionsfreude auch schon mal ausgebremst.
Der Abend naht, aber auch die restlichen beiden Punkte der Kennzeichnung werden ausführlich abgehandelt. Bei den Verarbeitungssymbolen, unter anderem "Der Klebstoff ist auf die Wandbekleidung aufzutragen", appelliert Steinbrecher an die Tapezierer, stets auf sauberes Arbeitsmaterial, Pinsel, Rührhölzer, Eimer, und Lappen zu achten. "Sauberes Arbeiten ist wichtig". Das sei keineswegs selbstverständlich: "Ich habe schon Bürsten gesehen, verklebt und steinhart, die überhaupt nicht mehr als solche zu nutzen waren".
Kein Universalkleber
Wortreich wird das Thema "Klebemittel für Wandbekleidungen" begleitet. "Es gibt bestimmt 50, 60 Sorten Kleister, von denen wir den größten Teil überhaupt nicht brauchen". Eigenschaften und Anwendungsgebiete werden erklärt: Wann wird Normalkleister eingesetzt, Spezialkleister, Tapeziergeräte-Kleister oder Dispersionsklebstoff ? Daneben gibt es konkrete Informationen über bekannte Produkte wie Glutolin, Metylan, Ovalit, Pufas-Kleister. Wenn Lothar Steinbrecher dazu auffordert, sich auf wenige Sorten zu beschränken, diese aber genau auf die Tapetenart abgestimmt, wird deutlich: Hier spricht einer, der die Kleister auch aus der Anwendung kennt, nicht nur ein grauer Theoretiker. Ein immer noch viel zu häufig vorkommendes Problem ist nach seiner Beobachtung übrigens die falsche Anmischung des Kleisters mit Wasser.
Für den Beobachter ist es verblüffend, wieviel verschiedene Antworten auf Steinbrechers Fragen zum Verkleben einer bestimmten Tapete kommen. Vlies in der Wandklebetechnik oder per Tapeziergerät? Keine Meinung ist wie die andere. Jeder hat so seine eigenen Erfahrungen, von denen mancher auch nicht gleich abrücken will. Wer will, kann künftig im Sammelordner nachschauen. Oder in dem Steinbrecher-Buch "Professionell tapezieren", das jeder Teilnehmer ebenfalls mit nach Hause nehmen darf. Dazu gibt es für jede Wandbekleidungsart ein Originalmuster im Ordner. Merke, diktiert Lothar Steinbrecher zum Mitschreiben: "Je stärker das Papier, umso dicker der Kleisteransatz". Bei Duplexprägetapeten: "Keine Nahtroller verwenden" oder Vliestapeten: "Bei hellgrundigen auf Gleichfarbigkeit der Untergründe achten, eventuell pigmentierten Tapetengrund vorstreichen." Keineswegs selbstverständliche Tipps für den Profi.
Werden alte Tapeten denn immer entfernt? "Die müssen runter", schreiben Merkblatt Nr. 16 und Lothar Steinbrecher vor. Und wie? "Nehmen Sie das Keller-Sprühgerät mit Druck, Düse und Tapetenablöser, ohne zu vernebeln." Die Oberfläche sollte mit Igel oder Cuttermesser leicht angeritzt werden, damit der Tapetenablöser besser eindringen kann. Bei spaltbaren Tapeten macht das Merkblatt eine Ausnahme: Wenn die Unterschicht fest ist, darf sie bleiben. Für Vlies wird Spezialkleister und 10% Dispersionskleber empfohlen. "Aber wenn das Verhältnis nicht stimmt, ist auch Vlies nicht abziehbar, das könnte noch ein Problem werden".
Ausklang am Abend. Gabriele Zinnkann, die Lothar Steinbrecher bei der Organisation der Seminare unterstützt, hat ein köstliches Bufett vom Kantinenchef vorbereiten lassen. Im stimmungsvollen Schauraum der Marburger Tapetenfabrik geht es weiter mit dem Fachsimpeln. Fast enttäuscht klingt es, wenn der Seminarleiter zum Aufbruch der Gruppe bemerkt: "Oft sitzen wir hier noch länger zusammen, bis elf Uhr oder noch später."
Rechtliche Fragen interessieren besonders
Mit Untergrundprüfung und -vorbehandlung startet der zweite Tag. "Das Gelingen einer Tapezierung ist von der Beschaffenheit und fachgerechten Vorbereitung des Untergrunds abhängig." Wie ist auf Feuchtigkeit zu prüfen, auf Oberflächenfestigkeit? Wie wird richtig grundiert. "Wo können Fehlerursachen liegen, wie können Fehler vermieden werden, wie ist eventuell Abhilfe zu schaffen?"
Schließlich der Hinweis auf das Verhalten des Handwerkers bei Bedenken gegen die vorgesehene Art der Ausführung oder Mängel an Vorleistungen anderer Unternehmer. Der Tapezierer muss diese dem Auftraggeber unverzüglich, schon vor Beginn der Arbeiten, schriftlich mitteilen und kann sich an dem Musterbrief im Ordner orientieren. Rechtliche Fragen, die das Verhältnis zwischen Auftraggeber und Handwerker betreffen, interessieren die Maler im Seminar sehr. Da der Marburg-Mann auch als Gutachter herangezogen wird, kann er hier ganz allgemein einige Tipps geben.
Und bevor die Tapeziertische aufgestellt und die Malerschürzen umgebunden werden, gibt der Meister den Handwerkern nachdrücklich mit auf den Weg: "Das Merkblatt Nr. 16, Technische Richtlinien für Tapezier- und Klebearbeiten müssen alle lesen." Für die praktische Tapezierarbeit werden die Teilnehmer in fünf Gruppen eingeteilt und jeweils mit einer Aufgabe bestückt. Kein Problem für die Maler und Tapezierer, endlich können sie ihrer gewohnten Arbeit nachgehen. Noch wissen sie nicht, dass Lothar Steinbrecher in jede Gruppenaufgabe ganz gezielt ein Handicap eingebaut hat, eine besondere Fragestellung oder Anforderung... Er spaziert umher, schaut, fragt nach, schaut wieder, lässt weiterarbeiten, und am Schluss werden die Nischen gemeinsam mit dem Lehrer begutachtet.
Praktische Übungen: Mitdenken gefordert
Gruppe 1 soll ein Kinderzimmer tapezieren: oben Häschen-Dessin - kaum zu glauben, aber ansatzfrei -, unten strukturierte Uni-Tapete, getrennt durch eine Bordüre. Wie hoch ist der Sockel anzusetzen? Denn mit der falschen Höhe kann man die räumliche Wirkung schwer beeinträchtigen. Hier müsste die Borte zuerst geklebt werden, aber: "Das tun sie nicht, sie kleben Ober- und Unterwand und dann erst die Borte." Außerdem verlangt Lothar Steinbrecher: "Wo man Senkrechte oder Waagerechte braucht, arbeitet man mit Laserlinien.
Gruppe 2 hat "das schwierigste Muster" zu verkleben, die Tapete hat Profil, durch kleine Quadrate senkrechte und waagerechte Linien. Weitere Tücke: die Außenecken sind 2 cm außer Lot. Wie geht man jetzt vor? "Wichtig ist, senkrecht zu kleben". Außerdem muss um die Ecke herum neu geklebt werden, weil ansonsten das Muster immer schräger läuft. Als Kompromiss könnte man mit einem speziellen Eckprofil arbeiten, das die Außenkante etwas angleichen kann.
Die Schwierigkeiten in der Gruppe 3 beginnen schon damit, den Rapport in der neuen Marburg-Tapete "On the beach" zu finden. Blaue "Wassertropfen", fast ein Uni, aber der Ansatz muss definiert werden. Die eigentlich Problematik liegt in der Dachschräge bzw. der Borte, die umlaufend verklebt werden soll. In der Dachschräge wirkt die Borte im Vergleich zu den Wänden rechts und links viel schmaler. Aber die Optik lässt sich überlisten und die Borte verbreitern, indem man in der Dachschräge an die Borte einen schmalen Streifen zusätzlich anklebt. Das funktioniert allerdings nur bei Borten ohne ausgeprägte figürliche Motive.
Von der Gruppe 4 soll eine Deckenfläche mit einer Strukturprofiltapete beklebt werden. "Bitte Vorgehensweise wie bei einer großen Fläche: In welcher Richtung wird geklebt?" Den Doppelnahtschnitt mit dem Gleitfußmesser machen. Das sei " auch nicht selbstverständlich", aber sehr gut für Vliesprodukte geeignet. "Mit dem Cuttermesser verletze ich die Wand". In der Kritik: "Die Decke hätte nicht auf Rapport geklebt werden müssen". Und im Kniestock gibt es "so komische Zugfalten". Jetzt spricht der Praktiker: "Ich habe hierfür geeignete Leisten gefunden, mit denen ich zum Beispiel das ganze Haus meines Sohnes tapeziert habe".
Gruppe 5 hat ein Kastenmotiv an die Decke - die nicht egal ist - und einen Türrundbogen mit Textiltapeten zu tapezieren. Eine schon durch die relativ sperrige Struktur der Textiltapete leicht unsaubere Optik stellt sich ein. Was tun? Die Lösung wäre wieder eine Eckprofilleiste, die stabilisiert und den Bogen sauberer wirken lässt. Bei der Decke versuchte die Gruppe, das Kastenmotiv mittig auszurichten. "Was würde dagegen sprechen," fragt Steinbrecher, "volle Kästchen zu kleben und rundum etwa 6,8 cm frei zu lassen?"
"Kleben Sie wohl" - Mit diesen Worten verabschiedet sich Lothar Steinbrecher von den Teilnehmern. Tapezieren, das ist das respektvolle Resümee des Laien nach diesem Seminar, ist eine Wissenschaft für sich. Aber auch dies hat er gelernt: Es gibt für alles eine Lösung.
Nachklang: In der anbrechenden Dunkelheit treffen wir auf dem Parkplatz Ralf Kastelein und Frank Koss, die jetzt eigentlich Richtung Düsseldorf aufbrechen wollten. Aber nein: "Wir überlegen gerade, müde wie wir jetzt doch sind, übernachten wir lieber nochmal hier und schauen uns morgen früh das Tapetenmuseum in Kassel an." Lothar Steinbrecher hatte bildreich davon erzählt - und ist ein schönerer Abschluss für sein Seminar vorstellbar?
aus
BTH Heimtex 06/04
(Marketing)