Versuch einer Teppichidentifikation - das Teppich-Puzzle
Auf eine ihrer letzten Reisen in den Iran, stießen die Sachverständigen des BSOT im Orientteppichmuseum in Teheran auf einen Teppich mit dem Hinweistext "Diesen Teppich können wir nicht zuordnen". Für ein Museum ist das ein eher ungewöhnlicher Schritt - der allerdings auch zeigt, das die Herkunftsbestimmung eines Teppichs überaus schwierig sein kann. Wie Sachverständige an die Herkunftsbestimmung herangehen und mit welchen Schwierigkeiten dabei zu rechnen ist, schildert der Frankfurter Sachverständige Peter Mauch.
Die Fachleute schleichen um die Platte in 120 cm Höhe. Anfassen und umdrehen dürfen sie ihn nicht, denn der Teppich ist alarmgesichert. Details lassen sich wegen des dämmrigen Lichts auch nur schwer erkennen. Es beginnen die Spekulationen, Material, Farbe, Muster - was sagt das Gefühl? Ist er persisch, türkisch oder gar indisch? Was gibt es für Hinweise? Man müsste den Rücken sehen, dabei könnte Knotentechnik und Knotendichte festgestellt werden. Wie fasst sich das Material an? Ist die Farbe auf der Rückseite ebenso stark verblasst? Wurden Details eines ähnlichen Teppichs schon mal in der Literatur beschrieben oder gar gezeigt?
Die Diskussion im Kollegenkreis ist entbrannt:
"Kommt er aus Kerman?"
"Nein, es ist ein Inder!"
"Aber nein, es ist ein Türke. Aber woher kommt er genau?"
Die hilfsbereiten Museumsmitarbeiterinnen hören zu und geben auch Kommentare ab, auf einen Nenner kommen sie jedoch nicht. Das Ergebnis ist unbefriedigend, zudem müssen die Sachverständigen auch noch weiter, der Bus wartet bereits.
Eine Woche später sind sie wieder in Teheran und versuchen mit kleinerer Besetzung das Rätsel um diesen mysteriösen Teppich zu lösen. Zu aller Überraschung erweitern Siawosch Azadi und der ehemalige Direktor des Museums, Hossein Hadji-Hassan, den Kreis der Sachverständigen. Die spannende Diskussion kommt wiederum zu keinem akzeptablen Ergebnis, doch mittlerweile ist die Museumsleitung bereit, den Teppich vom Podest zu nehmen, damit die Sachverständigen ihn näher untersuchen können - ihn anfassen, umdrehen, fotografieren und Maß nehmen dürfen.
Die Fakten
Die Größe ist schnell bestimmt: 130 cm 194 cm. Der Flor ist aus Seide, die stark verfilzt und nur schwach verzwirnt ist. Die Kette ist nicht ersichtlich. Da der Teppich abgefüttert ist, war nur eine kleine Stelle des Rückens zu erkennen. Weitere wichtige Details: Zwei Schüsse aus Baumwolle, symmetrische Knüpfung, die Knotendichte auf 7 cm x 7 cm lässt auf 500.000 Knoten / m schließen.
Viele weitere Puzzleteilchen lassen sich noch recht einfach bestimmen: So ist der Flor stark reduziert und teilweise oxidiert. Die Mitläuferborte fehlt, Farben sind stark verblasst. Es sind Farbnuancen, die nicht oder nur gering in persischen Teppichen vorkommen, wie zum Beispiel ein starkes Graublau in der oberen kleinen Borte im Fries, das Violett der Baumfarbe und in anderen Musterteilen oder die olivgrünen Blätter und Zypressen. Der Beginn des Teppichs auf der oberen Seite des Musters (also seitenverkehrt) ist ein Hinweis darauf, dass der Teppich für die Wand gefertigt wurde.
Ein wichtiger Exkurs
Einige Fakten und das Gefühl sagen den Experten, dass der Teppich aus der Türkei kommen könnte. Um die Herkunft weiter eingrenzen zu können, müssen Geschichte und Besonderheiten bestimmter Regionen in Erinnerung gerufen und besprochen werden:
Es gab drei Produktionsstandorte in Westanatolien, die besonders nahe am Teppichzentrum Istanbul lagen. Hereke, deren Knüpfarbeiten jedoch überwiegend für die Hohe Pforte, den Sitz der osmanischen Regierung, bestimmt waren. In Kum Kapu (Sandtor) im südlichen Stadtteil von Istanbul lebten die christlichen Armenier meist als Handelsleute und geschickte Handwerker. In kleinen Hausmanufakturen wurden vor allem feine Seidenteppiche geknüpft, die wegen ihrer Qualität sehr begehrt waren. Anders als die aus der Urheimat Armenien stammenden dörflichen Knüpfarbeiten mit ihren geometrischen Mustern wurde hier, bedingt durch die Marktnachfrage, durch die Mischung von Kopien traditioneller klassischer persischer Muster ein neuer Stil kreiert, der sich unter anderem auch farblich von den Originalen unterschieden hat. Die dritte Region war etwas entfernt von der Hauptstadt, die Knüpflöhne waren niedriger und es war zu dieser Zeit der größte Herstellungsort für Seide: die grüne Stadt Brussa, heute Bursa. Um den anderen Produktionsstandorten Konkurrenz zu machen, wurde in Brussa alles kopiert, was gefragt war. Neben den billigeren Löhnen wurde meist auch billigeres Material wie Chappé-Seide (Abfallseide) verwendet.
AusschlussprinzipDer erste, oberflächliche Eindruck führt meist viel zu schnell zu einer - vermeintlichen - Entscheidung. Je länger man sich damit beschäftigt, um so schwieriger wird dann die Erkenntnis, wo man einzelne Anhaltspunkte wie Vorder- und Rückseite, Struktur, Muster, Farben und Ausführung der Arbeit schon einmal gesehen hat.
Bei "diesem" Teppich ist klar, dass es sich um eine Produktion und nicht um einen Dorfteppich handelt. Klar ist auch, dass trotz der Knotendichte von ca. 500.000 Knoten / m die Musterausführung sehr einfach genau genommen sehr primitiv ist. In der alten Literatur findet sich keine identische Abbildung mit dieser Musterung. Warum auch sollte man zur damaligen Zeit einen solchen Typus veröffentlichen, wenn es doch genügend interessantere alte und antike Teppiche gab.
Aus einem der drei oben genannten westanatolischen Gebiete scheint er wohl zu stammen, eventuell hilft das Ausschlussprinzip weiter. Hereke scheidet aus, da es sich um eine Hofmanufaktur handelte, es wurde (fast) ausschließlich für die Hohe Pforte produziert. Dafür ist die Knüpfung dieses Teppichs nicht fein genug, ist die Zeichnung zu schwach (fast naiv) und das Flormaterial zu flau. Die Verspinnung ist sehr locker und die Rückenstruktur passt ebenso wenig zu Hereke wie das Farbbild.
Näher kommt der Teppich der Produktion aus Brussa, zum Beispiel wegen der Verwendung von Grünoliv und seinem Mix an Mustern. Für den Export wurden viele derartige Teppiche gefertigt. Dieser Teppich aber ist wiederum zu fein für Brussa. Der Griff von Brussa-Teppichen ist härter, flacher und stumpfer.
Als letzten möglichen Herkunftsort haben wir Kum Kapu, den armenischen Stadtteil von Istanbul ermittelt. Die kleine, aber feine Produktion begann in der Zeit um 1870. Die Armenier sind den Wünschen der meist europäischen Auftraggeber nachgekommen; es gab auch keine typischen Traditionsmuster wie bei anderen Knüpfländern. Und wegen der geringen Fertigungszahlen wurden sie nie sehr bekannt. Hersteller und Händler hatten ihre Abnehmer und Liebhaber, die Stücke wurden meist innerhalb des armenischen Bevölkerungsteils herumgereicht und tauchten nur vereinzelt wieder auf.
Keiner der damaligen Wissenschaftler hat sich mit dieser Produktion befasst und bis heute ist sehr wenig über sie bekannt. Eine der bekanntesten armenischen Knüpferfamilien war Hagop Kapoudjian. In einem von der Familie Kapoudjian 1993 veröffentlichen Buch finden sich einige Abbildungen der eigenen Produktion. Unter ihnen sind einige, die Teppiche mit gleichen Musterteilen und dem gleichen Knüpfbild zeigen wie der "Teppich ohne Herkunft" im Teheraner Museum. Im Übrigen zeigen die Personendarstellungen auf dem Teppich Kopftrachten, wie sie im frühen 19. Jahrhundert im türkischen Sivas von den dortigen Armeniern getragen wurden.
Diese Übereinstimmungen waren wohl die fehlenden Teile in unserem Teppichpuzzle. Vor allem in armenischen Sammlerkreisen hat diese wenig bekannte Gruppe heute übrigens einen sehr hohen Stellen- und Marktwert.
aus
Carpet Magazin 03/10
(Teppiche)