Sind Sie ein Orientteppich-Kenner?
Eine kleine Orient-Warenkunde
Es ist zwar schön, wenn man auf die Frage "Sind Sie ein Orientteppich-Kenner ?" mit "Ja" antworten kann. Doch alles kann niemand wissen. Vieles muss auch der versierte Fachmann nachschlagen. Mit unserer Orient-Warenkunde in diesem Heft möchten wir Ihnen Fachwissen auf eine unterhaltsame Weise vermitteln.Kurden - Teppichknüpfende länderübergreifende Volksgruppe
Die Kurden sind eine ursprünglich nomadisch lebende Volksgruppe, indo-iranischen Ursprungs, die einen guten Ruf als Knüpfer von Orientteppichen hat. Ihre Wurzeln lassen sich sehr weit zurück verfolgen: Brian MacDonald spricht in seinem Buch Tribal Rugs von 3.000 vor Christus; als sicher kann gelten, dass sie zur Zeit der Meder (bis 550 v. Chr) schon in ihrem heutigen Siedelgebiet lebten. Sie konnten über die Jahrhunderte ihre kulturelle Unabhängigkeit bewahren, auch wenn sie oft Spielball der mächtigen Nationen um sie herum waren und nie einen eigenen Staat hatten.
Die Kurden leben in zwei räumlich weit getrennten Gebieten. Vor allem in Kurdistan, dem historischen Siedlungsgebiet, das sich über mehrere Länder des vorderen Orients erstreckt: vom Südosten der Türkei, über den Norden des Irak, bis in den Nordosten des Iran, sowie kleinen Randgebieten von Syrien und Armenien. Das zweite, weniger bekannte Gebiet mit einer großen kurdischen Population liegt über 1.000 km weiter östlich, im Norden der iranischen Provinz Khorassan und Teilen des südlichen Turkmenistans. Hier leben Kurden seit ihrer Zwangsansiedlung durch persische Herrscher zum Anfang des 16. Jahrhunderts. Über 4.000 Familien wurden in das Gebiet zwischen der nordostiranischen Stadt Mesched und der südturkmenischen Stadt Merv deportiert. Sie sollten Persien vor den immer wieder einfallenden Turkmenen und Usbeken schützen. Vor allem die Tekke-Turkmenen führten blutige Raubzüge auf persischem Gebiet durch. Erst deren Unterwerfung durch die Russen zum Ende des 19. Jahrhunderts befriedete die Region.
Kurdische Teppiche werden noch in der Türkei und im Iran gefertigt. Eine pauschale Aussage über ihre Dessinierung lässt sich kaum treffen, auch wenn sie alle eher mit geometrischen oder stark stilisierten Motiven geknüpft werden. Die türkischen Kurdenteppiche sind im Vergleich etwas grober und geometrischer geknüpft als die Verwandten im Iran. Besonders die städtischen Teppiche wie vor allem der Senneh und Bidjar kommen in hochwertigen Qualitäten auf den Markt. Außerdem bekannt sind Teppiche aus Gazwin und die Kolyai. Neben Knüpfteppichen fertigen die Kurden auch gekonnt dessinierte Flachgewebe.
Closed-Back - Chinesische Knüpftechnik
Chinesische Teppiche unterscheiden sich zwar optisch sehr stark von ihren weiter westlich hergestellten Teppiche, sind aber von der Struktur nicht außergewöhnlich anders. Trotzdem gibt es zwei wissenswerte Besonderheiten bei den Teppichen aus dem Reich der Mitte. Zum einen wird nur hier die Knüpfdichte in "lines" angegeben. Gemeint ist die Anzahl der Knüpfreihen pro Fuß (ca. 30,5 cm). Ausserdem wird nur in China zwischen Open-Back und Closed-Back Knüpfungen unterschieden. Ihren Namen haben sie von den Schussfäden, die im Fall der Open-Back-Teppiche von der Rückseite zu sehen sind. Bei den Closed-Back-Teppichen sind sie nicht zu sehen.
Beide Varianten sind Teppiche mit geschichteten Kettfäden und asymmetrischen Knoten. Bei den Open-Back-Teppichen umschließt der dem Flor zugewandte Knotenbogen den Kettfaden komplett. Diese Variante entspricht auch der im übrigen Orient verbreiteten Technik. Die Closed-Back-Teppiche werden genau andersherum geknüpft: Der dem Rücken zugewandte Kettfaden wird vom Knotenbogen komplett umschlungen. Der Grund für den bei den Closed-Back nicht sichtbaren Schussfäden liegt aber nicht an dieser Knüpfeigenart, als vielmehr einem fester angeschlagenen Schussfaden.
Boucherouite -Marokkanischer Teppich aus Recylingmaterial
Bei den Boucherouite handelt es sich um einen recht neuen, komplett eigenständigen Teppichtyp aus Marokko. Sein Name, manche schreiben auch Boucherwit, gibt bereits Aufschluss über die Entstehungsgeschichte und Charakteristik dieses Knüpferzeugnisses: Er bedeutet so viel wie Stück oder Fetzen von gebrauchter Kleidung. Die Boucherouite sind aus alten Textilien gefertigt, als Material kommen folglich alle erdenklichen Rohstoffe in Frage: Wolle, Baumwolle, Kunstfasern aller Art oder auch Plastikstreifen. Die Farbgebung und Musterung hat seinen eigenen unbeschreiblichen Charme. Die Dessinierung gleicht am ehesten moderner Kunst; sie ist wild, bunt und ursprünglich.
Die ersten Boucherouite entstanden in den 1960er Jahren in den vorwiegend von Arabern bewohnten Städte Beni Mellal und Boujad. Auf Grund der exportorientierten Produktion der bekannten Berberteppiche und den gesellschaftlichen Umstrukturierungen hin zu sesshafter Landwirtschaft, wurde Wolle als Rohstoff für Teppiche des Eigengebrauches zu kostbar. Die Knüpferinnen fanden in Streifen aus alten Textilien einen gut nutzbaren Ersatz. Ein Nebeneffekt dieses Recyclings ist das schon angesprochene Kolorit. Waren die Wollteppiche seit jeher mit Pflanzenfarben gefärbt und daher in warmen oder gedeckten Farben gehalten, konnten die Knüpferinnen jetzt auf zahlreiche Materialien und ein umfangreiches Farbspektrum zurückgreifen. Die Idee, Teppiche aus recycelten Materialien zu fertigen setzte sich im Laufe der Zeit in ganz Marokko durch. Ab den 90er Jahren knüpften sogar die Berber des Mittleren und Hohen Atlas Boucherouite.
Bergama - Anatolische Teppichprovenienz
Die türkische Teppichprovenienz Bergama liegt im äußersten Westen Anatoliens, knappe 100 km nördlich von Izmir. Geknüpft wurde und wird weniger in der Stadt Bergama selbst, als viel mehr in den umliegenden Dörfern. Die Stadt ist aus dem antiken Pergamon hervorgegangen, der ehemaligen Hauptstadt des Pergamenischen Reiches des 3. und 2. Jahrhunderts vor Christus. Der aus dieser Zeit stammende Pergamon-Altar ist heute im nach ihm benannten Berliner Pergamonmuseum zu sehen.
Die Teppiche aus Bergama, beziehungsweise Westanatolien, blicken auf eine lange Tradition zurück. Bekannt sind beispielsweise die sogenannten Holbein-Teppiche des 15 Jahrhunderts, die den Provenienzen Bergama und Uschak zugeschrieben werden. Ebenfalls bekannt sind die Siebenbürgen- oder Transsylvaner-Teppiche des 17. Jahrhunderts.
Typisch für Bergama-Teppiche sind das gedeckte vorwiegend in Rottönen gehaltene Kolorit, das vergleichsweise breite Format und der etwas längere Wollflor. Bei der Dessinierung stechen zwei Varianten besonders heraus. Die erste ähnelt mit seinen geometrischen Mustern sehr stark den Teppichen des Kaukasus. Bei der zweiten, der floralen Variante, bilden Blütenmotive die äußere Umrandung einer großen, im Innenfeld platzierten Raute, die wiederum von vielen weiteren stilisierten Blüten umgeben ist.
aus
Carpet Magazin 03/11
(Teppiche)