Eine kleine Orient-Warenkunde

Sind Sie ein Orientteppich-Kenner?


Es ist zwar schön, wenn man auf die Frage "Sind Sie ein Orientteppich-Kenner?"mit "Ja" antworten kann. Doch alles kann niemand wissen. Vieles muss auch der versierte Fachmann nachschlagen. Mit unserem Ratespiel in diesem Heft möchten wir Ihnen Fachwissen auf eine unterhaltsame Weise vermitteln: Die ausführliche Auflösung der Fragen folgt gleich in der nächsten Ausgabe. Sie finden daher jetzt auch die Auflösung der Fragen aus der letzen Ausgabe.

Wagireh
Geknüpfte Mustervorlage


Wagireh (oder auch Vagireh) kommt aus dem Persischen und heißt soviel wie "Musterstück". Wagirehs dienten vor allem zur Kommunikation zwischen Hersteller, Knüpfern und Kunden im kommerzialisierten Teppichgewerbe und waren eher selten Gedächtnisstützen nomadischer Weberinnen. Diese Musterstücke waren nicht für den Verkauf bestimmt. Wagirehs werden auch heute noch benutzt, soweit sie nicht durch Rasterkartons ersetzt wurden, bei denen Knoten für Knoten übertragen wird. Das Gros der im Umlauf befindlichen Wagirehs wurde Ende des 19. Jahrhunderts bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts hergestellt. Äußerst selten sind ältere Beispiele. Es gibt winzig kleine Wagirehs, vielleicht 30 x 30 cm, die nur ein Stückchen Bordüre und ein paar Feldmotive zeigen. Die größten Exemplare messen bis an die 2,50 x 2 m und wirken auf den ersten Blick wie komplette Teppiche.

Die meisten Wagirehs scheinen das für den Knüpfer nötige Konzept zu beinhalten, um einen vollständigen Teppich herstellen zu können. Der Wagireh ist dabei nur eine Formel und die Ausführung bedarf der Phantasie und der Interpretation der Knüpferin. Andere Wagirehs hatten die Aufgabe, dem Kunden oder Auftraggeber eine Vorstellung von Farbstellung, Feldmustern und Bordüren eines fertigen Teppichs zu vermitteln. Nicht knüpftechnische Details, sondern der Gesamteindruck steht hier im Vordergrund. Die Illusion der Vollständigkeit ist häufig gegeben, die schon manchen Teppichprofi verwirrt hat: Ist es ein kleiner Teppich oder ein großer Wagireh?


Herati
beliebtes Allover-Motiv


Das Herati-Muster ist eines der bekanntesten Allover-Feldmuster überhaupt. Klassisch ausgeführt besteht es aus einer stilisierten Rosette im Zentrum einer Raute, eingefaßt von schmalen, parallel laufenden, lanzettförmigen geschwungenen Blättern. Es ist auch als Mahi- oder Mahi-to hos-Muster (persisch für Fisch, bzw. Fisch am Teich) bekannt, weil die schmalen Blätter wie Fische aussehen können, die um einen rautenförmigen Teich arrangiert sind. Das Muster kommt häufig in den Teppichen aus den Provenienzen Bidjar, Moud, Doroksh, Sarough, Farahan und Hamedan vor, aber auch auf kaukasischen und turkmenischen Stücken. Wegen seiner kleinteiligen Eleganz und seinem schönen Rhythmus ist das Herati-Muster immer noch sehr beliebt.

Herati bedeutet "aus Herat" kommend. Die Stadt Herat liegt im Nordwesten Afghanistans an wichtigen Handelsrouten zwischen Indien, China, Turkestan und Persien. Sie gehörte sehr lange zum persischen Kulturraum und besaß eine äußerst bedeutende und einflussreiche Teppich-Tradition. Die weite Verbreitung des Herati-Motivs wird damit erklärt, dass nach der Eroberung der Stadt durch Nadir Shah in den 1730er Jahren viele erfahrene Teppich-Knüpfer nach Persien und in den Kaukasus umgesiedelt wurden. Diese trugen das Muster in andere Provenienzen.


Merzerisieren
Verfahren zur Baumwollveredelung


Merzerisieren ist ein chemisches Verfahren zur Glättung der Oberfläche von Baumwollfasern. Erfunden wurde es von dem britischen Chemiker und Industriellen John Mercer (1791-1866). Mit Hilfe verschiedener Laugen, unter Kühlung und Strecken erhöhen sich nicht nur der Glanz der Baumwolle, sondern auch die Reißfestigkeit und die Farbaufnahmefähigkeit. Allerdings sinkt gleichzeitig die Elastizität der Faser. Teppiche mit einem Flor aus merzerisierter Baumwolle sind deshalb deutlich weniger strapazierbar als Stücke aus echter Seide oder Wolle.

In der Teppichherstellung wird unbehandelte Baumwolle fast ausschließlich für Kette oder Schuss verwendet. Sie ist besonders zugfest und sorgt deshalb für ein stabiles Grundgewebe. In der neueren Teppichproduktion in Indien, Pakistan und der Türkei wird merzerisierter Baumwolle im Flor eingesetzt. Der Glanz der merzerisierten Baumwolle ist so beeindruckend, dass solche Stücke leicht mit echten Seidenteppichen verwechselt werden können. Um das Material zweifelsfrei zu prüfen, genügt es, einen Faden aus dem Teppich herauszuziehen und zu verbrennen. Echte Seide riecht nach verbrannten Haaren und demnach anders als cellulosehaltige Fasern wie merzerisierte Baumwolle, Viskose und Rayon.


Lung
altes chinesisches Motiv


Lung - oder Long - ist der jahrtausende alte Drache aus der chinesischen Mythologie. Er symbolisiert die männliche Energie und Schöpfungskraft "Yang" und wird in der Kunst häufig mit seinem weiblichen Gegenstück, dem Phönix (chin. Fenghuang) "Yin" - kombiniert. Er hat einen mächtigen geschuppten Schlangenkörper mit Adlerkrallen und einen Kamelkopf mit Hirschgeweih, Teufelsaugen und Ochsenohren und die Barteln eines Welses. Abhängig von der Epoche ist der Drache in einem anderen Stil dargestellt. Berühmt sind Teppiche mit Drachen aus Nigxia und Säulen- und Art Deco-Teppiche aus Tibet. Er findet sich auch auf repräsentativen Einrichtungsgegenständen, als Skulptur, in der Malerei und auf Textilien.

Der Drache steht für Macht, ist also positiv besetzt, obwohl durch seine Kraft auch Naturkatastrophen ausgelöst werden können. Mit fünf Klauen stellte er das Wappentier des Kaisers dar. Es gibt viele unterschiedliche Varianten des Drachen: Mit weniger als fünf Krallen symbolisiert er die Macht imperialer Beamter. Spielt er mit einer Perle, so bedeutet dies, dass er nach Wohlstand und Glück greift. Fliegt Lung am Himmel und wirbelt er Wolken und Meer auf, so gestaltet er die Welt.
aus Carpet Magazin 01/13 (Teppiche)