Fachinformation orientalische Flachgewebe
Kelim & Co.
Im orientalischen Raum ist der Kelim das bekannteste Flachgewebe. Noch bis vor wenigen Jahrzehnten war er in westlichen Wohnzimmern so gut wie unbekannt und weitgehend ein Thema für Spezialisten und Sammler. Das hat sich innerhalb relativ kurzer Zeit geändert. Das beweist, dass orientalische Flachgewebe eine Lücke im Einrichtungsspektrum der hiesigen Wohnkultur ausgefüllt haben. Besonders für eine junge Kundschaft sind Kelim & Co. interessant. Das Weben von Stoffen hat weltweit eine Jahrtausende alte Tradition. Rund um den Globus haben nomadische wie bäuerliche Gesellschaften ihre Textilien für den Eigenbedarf hergestellt: als Kleidungsstücke, Decken, Behältnisse oder andere Gebrauchsgegenstände und natürlich als Teppiche. Die Wolle dafür kam zumeist vom eigenen Vieh. Am Anfang standen einfache Webformen, die aber bald schon an primitiven Webstühlen bemerkenswerte Kunstformen hervorbrachten. Flachgewebe sind leichter und besser zu transportieren als geknüpfte Teppiche, haben aber eine geringere Haltbarkeit. Deshalb sind auch vergleichsweise wenige antike Stücke erhalten.
Der Beginn des Triumphzugs des Kelims wird im Teppichhandel auf ein ganz konkretes Ereignis zurückgeführt: Eine Ausstellung in der Londoner Whitechapel Art Gallery im Jahr 1977 - die erste ihrer Art über den Kelim. Initiatoren waren die Galeristen David Black und Clive Loveless, deren Begleitbuch 'The Undiscovered Kilim" Vorläufer vieler Monographien über Flachgewebe war. Die Ausstellung bahnte dem neu entdeckten Segment zügig den Weg vom Sammlermarkt über den Fachhandel bis in den europäischen und amerikanischen Einrichtungshandel. Der Kelim wurde auf dem Massenmarkt rasch populär. Das lag dabei weniger an seiner Rolle als orientalisches Kulturgut, sondern beruhte vielmehr auf praktischen Erwägungen: seiner vielseitigen Einsetzbarkeit - und auf dem, im Vergleich zum klassischen Knüpfteppich, günstigen Preis.
Flachgewebe: Begriffsbestimmung und Struktur
Das Wort Kelim ist in der Alltagssprache - und teils auch im Handel - zu einem Synonym für alle orientalischen Flachgewebe geworden. Dabei definiert ihn der Fachmann streng an seiner typischen Webtechnik und der orientalischen Herkunft. Der Begriff Kelim stammt aus dem Sprachgebrauch der Region und ist damit viel eingegrenzter als der des Teppichs. Als Kelim bezeichnet man nur Produktionen aus der Türkei, dem Kaukasusgebiet, dem Iran, Afghanistan und dem turkmenischen Kulturraum. Damit sind etwa indische Dhurries oder europäische Fleckerlteppiche keine Kelims. Neben dem Kelim gibt es weitere orientalische Flachgewebe: Soumak, Palas, Djadjim, Sileh, Verneh und Schaddah.
Die Machart des Kelim mit dem abwechselnden Umgreifen der Kettfäden ist die einfachste und grundlegendste Webmethode, deren Anfänge vor der Erfindung des Webstuhls liegen. Seine Feinheit wird von der Dichte der Kettfäden und der Beschaffenheit des Schussfadens bestimmt. Er erhält sein Muster durch Schussfäden unterschiedlicher Farben. Jeder Farbbereich im Muster wird mit einem eigenen Faden gewebt. Stoßen zwei Farbbereiche aneinander, entsteht deshalb ein Schlitz im Gewebe. Dieser für Kelims charakteristische Schlitz macht die Unterscheidung zu anderen Flachgeweben sehr leicht. Man bezeichnet diese Kelims auch als Schlitz-Kelims.
In einer ähnlichen Kelim-Webtechnik wird etwas mehr Stabilität dadurch geschaffen, dass beim Farbwechsel die angrenzenden Kettfäden jeweils von beiden Schussfäden umschlossen oder 'verhängt" werden. So entsteht eine durchgehend gewebt Fläche ohne einen Schlitz. Außerdem gibt es mit doppelt verhängten Geweben, sogenannten Schwalbenschwanzverbindungen, diagonal verlaufenden Korrekturschlüssen oder Broschierungen eine Vielzahl von unterschiedlichen Kelim-Techniken. Als Material für den Schuss - also für die Nutzfläche - wird in der Regel Wolle verwendet, die auf einer Woll- oder Baumwoll-Kette gewebt wird. In manchen Regionen werden Musterbereiche bzw. -akzente auch in Seide oder Baumwolle gewebt.
Soumak, Djadjim und Nimbaft
Im breiten Spektrum der orientalischen Flachgewebe erfreuen sich neben dem Kelim vor allem der Soumak, der Djadjim und der Nimbaft einer respektablen Beliebtheit und einem für den Handel interessanten Stellenwert. Obwohl diese Flachgewebe beim Verbraucher meistens als Kelim einsortiert werden, unterscheiden sie sich von diesem in ihrer Webart doch ganz grundsätzlich.
Die Muster der Soumak werden ebenfalls durch die Schussfäden gebildet. Die dabei angewandte Web- bzw. Wirkform nennt man auch Wickeltechnik. Bei dieser Webtechnik werden die überstehenden Schussenden nicht zurückgeführt. Sie hängen an der Rückseite locker und wirr heraus. Der Soumak ist an dieser webtechnischen Eigenart leicht zu erkennen. Auch ist er deshalb nur von einer Seite zu verwenden. Der Soumak hat dadurch eine kräftigere Struktur als der Kelim.
Der sehr dünne Djadjim wird in schmalen Bändern endlosgewebt, die geschnitten und zusammengesetzt werden. Aus technischer Sicht unterscheiden sich Djajim von den Kelim oder Soumak, dadurch, dass die Musterung nicht durch den Schuss, sondern über die Kette gebildet wird. Daher sind nur einfache Muster möglich - meist Streifen - hin und wieder auch mit schlichten Details.
Eine Sonderstellung bei den orientalischen Flachgeweben nimmt der Nimbaft ein. Der Name bedeutet so viel wie halb geknüpft (persisch 'nim" heißt halb, 'baft" Knoten oder geknüpft). Diese Stücke bestehen demnach aus einem flachgewebten Teil, der meist in Kelim- oder Soumak-Technik gefertigt ist, und einen geknüpften Bereich. Es handelt sich also um ein Textil, das halb Teppich, halb Flachgewebe ist. Der eingeknüpfte Flor soll den Nimbaft widerstandsfähiger machen. Nomadische Transporttaschen werden beispielsweise gern an den exponierten Stellen mit einer geknüpften Partie versehen, die diese vor Abrieb schützen.
Ursprungsländer
Nahezu überall, wo es im Orient nomadische und bäuerliche Gesellschaften gibt, werden Flachgewebe produziert. Daher gibt es auch zahllose Herstellerregionen, die sich kaum vollständig auflisten lassen. Zu den bedeutendsten Kelim-Produzenten gehören die südpersischen Ghaschghai-Nomaden. In Aserbaidschan und dem West-Iran werden neben den klassischen Schlitz-Kelims auch Soumaks gewebt. Das Bachtiar-Gebiet im Zentraliran und Belutschistan im Osten bilden weitere wichtige Provenienzen. In der Gegend um Kirman werden neben Kelims bekannte Soumaks gefertigt. Und auch die Kurden sind traditionell Produzenten und dabei unter anderem für den feinen und kleingemusterten Senneh-Kelim berühmt. Aus den Dörfern der Provinz Harsin kommen dabei grobe und schwere Kelims in großen Formaten. Die Turkmenen sind ebenfalls Spezialisten für zahlreiche flachgewebte Erzeunisse. Auch in Anatolien wird viel Kelim gewebt, der im westlichen Fachhandel allerdings keine große Rolle spielt. Etwas anders sieht es bei antiken anatolischen Flachgeweben und deren Fragmenten aus: Hier gibt es eine versierte Sammlerschaft.
Vom traditionellen Gebrauchs- zum Konsumartikel
Während die Webtechniken von Kelim, Soumak, Djadjim und Nimbaft über viele Jahrhunderte von Generation zu Generation weitergegeben wurden, haben sich deren Produktionsweisen doch grundlegend verändert. Zwar sind die Produzenten noch immer Frauen aus bäuerlichen, nomadischen oder halbnomadischen Familien. Nach wie vor gibt es aber keine Manufakturen. Allerdings hat die Nachfrage westlicher Märkte heute zu einer Trennung zwischen Herstellung und Nutzung geführt. Die Flachgewebe hatten früher nicht nur dekorative, sondern vor allem auch funktionale Eigenschaften im eigenen Haushalt, etwa als Satteltasche, Zeltvorhang, Decke, Bodenbelag oder schlicht als 'Tisch". Dagegen sind sie heute zum Großteil dekorative kommerzielle Exportartikel für den Einrichtungshandel.
War früher fast ausschließlich der in die lokalen Traditionen eingebettete persönliche Geschmack der Weberin maßgebend für die Muster, Farbgebung und Format, so sind es gegenwärtig in weiten Teilen die Auftraggeber, die marktfähige Gestaltungskriterien vorgeben. Die ursprünglichen Produktionsweisen hatten die Herkunftsbestimmung von Kelims auch für Experten immer ausgesprochen schwierig gemacht. Denn deren Individualität war viel ausgeprägter als bei Teppichen. Heute werden Kelims hingegen viel ähnlicher produziert, weil die Themen vorgegeben sind. Im Einzelstückbereich ist die Bestimmung zwar nach wie vor sehr schwierig, da es ein ungemein breites Spektrum an Mustern gibt. Immerhin gibt es bei einigen Varianten und Provenienzen webtechnische Hinweise. Wichtigster Indikator bei der regionalen Zuordnung ist das Muster, manchmal hilft auch das Format weiter. Vor allem Erfahrung ist bei der Bestimmung wichtig. 'Es gibt typische Stile, die Senneh-, Ghaschghai- oder Ardebil-Kelims erkennbar machen", erklärt EUCA-Vorsitzender Ali Ipektchi. 'Wer aber eine regionale Strukturanalyse über den Kelim durchführen will, begibt sich auf das Terrain von Sachverständigen. Händler und Konsumenten sollten sich auf das Optische und vielleicht noch auf einige technische Aspekte beschränken."
Chancen im Markt
Der Orientteppich fand in den 1970er und 1980er Jahren breitflächig Einzug in die westliche Wohnkultur. Nur kurz darauf kam mit dem Kelim ein Produkt auf den Markt, das ursprünglich anmutete und überwiegend geometrisch war - und schnell eine Bedeutung einnahm, die über den dekorativen Einsatz auf dem Fußboden hinausging: Es wurden sogar Sofas und Kissen mit Kelimstoffen bezogen. Als Konsequenz daraus wuchs die Nachfrage nach preiswerten Kelims. Und das kurbelte die Produktion in den Herstellungsländern an, vor allem im Iran. Heutzutage hat der moderne und günstige Kelim eine stabile Position im Markt; er konnte dem Teppich aber nie die Vorherrschaft streitig machen. Im Handel lässt sich zwar mit vergleichsweise wenig Kapital eine Kelim-Abteilung aufmachen, es gibt dennoch nur wenige spezialisierte Anbieter. 'Der Kelim polarisiert", sagt Ipektchi. 'Die einen können ihn sehr gut verkaufen, die anderen rühren ihn prinzipiell nicht an."
Derzeit gibt es eine Entwicklung hin zu flacheren Bodenbelägen, die dem Kelim ein neues Marktpotenzial bietet. Seine Einsatzmöglichkeiten sind außerordentlich vielfältig: Er passt zum Beispiel ganz hervorragend zum Landhausstil oder fügt sich mit seinen geometrischen Mustern perfekt in den Bauhausstil ein. Vor allem auf jüngere Leute hat er nach wie vor eine große Anziehungskraft. Nun ist der Handel gefragt, diese Chancen zu nutzen. Doch gibt es bis heute nur wenige Spezialisten, die ausschließlich Kelims führen - aber immerhin viele Händler, die auch Kelims anbieten. 'Leider gibt es vielerorts noch zu wenig Wissen über den Kelim", resümiert Ipektchi. 'Er gilt oft noch als Spezialbereich - obwohl er doch längst weltweit ein Produkt für eine sehr breite Konsumenschicht ist."
aus
Carpet Magazin 04/13
(Teppiche)