Eine kleine Orient-Warenkunde

Sind Sie ein Orientteppich-Kenner?


Es ist zwar schön, wenn man auf die Frage "Sind Sie ein Orientteppich-Kenner?"mit "Ja" antworten kann. Doch alles kann niemand wissen. Vieles muss auch der versierte Fachmann nachschlagen. Mit unserem Ratespiel in diesem Heft möchten wir Ihnen Fachwissen auf eine unterhaltsame Weise vermitteln: Die ausführliche Auflösung der Fragen folgt gleich in der nächsten Ausgabe. Sie finden daher jetzt auch die Auflösung der Fragen aus der letzen Ausgabe.

Jajim - Kettgemustertes Flachgewebe
Ein Jajim ist ein aus mehreren Bahnen zusammengenähtes, kettsichtiges Flachgewebe. Diese Kettsichtigkeit ist sein wichtigstes Merkmal und bedeutet, dass im Grundgewebe die Kettfäden die Schussfäden überdecken. Das Muster wird also von den Ketten gebildet und nicht - wie das zum Beispiel beim Kelim der Fall ist - von den Schüssen. Typischerweise haben Jajims schmale Streifen, je nach Herkunft auch mit kleinen Mustern. Wenn sie gemustert sind, wie die meisten Jajims aus Khorasan oder der Shahsawan-Nomaden, sehen die Rückseiten anders aus als die Vorderseiten: Die Musterfäden verlaufen auf der Rückseite lose - also "flottierend" - über dem Grundgewebe. Die Kettfäden sind meist sehr fest und gleichzeitig fein gesponnen. Das macht die Gewebe leicht und trotzdem stabil. Meist haben sie ein nahezu quadratisches Format.

Typischerweise wird zum Weben ein horizontaler Webstuhl benutzt. Er ist einfach auf- und abzubauen und deswegen oft bei Nomaden in Gebrauch. Um einen Jajim herzustellen, wird eine schmale, sehr lange Bahn gewoben, diese in gleich lange Stücke - meist fünf bis sieben - zerschnitten und zusammengenäht. Manchmal ist das letzte Stück ein wenig zu kurz geraten, dann wird von einer anderen Bahn etwas angesetzt. Anschließend werden die offenen Enden umgenäht, bei den Shahsawan-Nomaden zum Beispiel werden die Kanten mit Stoffstreifen versäubert.

Jajims kommen aus allen Gebieten Zentralasiens, außerdem sind sie in der Südost-Türkei und auch in Persien weit verbreitet. Sie wurden als Bodenbedeckung, Unterlage zum Trocknen von Getreide, als Zeltbehang, zum Einwickeln von Gepäck bei der Wanderung oder als Ofendecke benutzt. Im Einrichtungsbereich werden sie wegen ihrer modern wirkenden Streifenoptik sehr geschätzt.

Seyrafian - Persische Knüpfer-Dynastie
Seyrafian ist in Okzident und Orient der Inbegriff für beste persische Manufakturteppiche. Wenn auf einer Auktion ein Seyrafian auftaucht, wird automatisch von höchster Knüpfqualität und Knotendichte, feinster Korkwolle, besten Naturfarben und elegantester Gestaltung ausgegangen. Und das ist auch berechtigt.

Die Seyrafians sind eine sehr lebendige und produktive Teppichdynastie aus Isfahan / Persien, der Hochburg feiner Stadtteppiche. Ihr Ahnherr war Haj Agha Reza Seyrafian (1881-1975), ein angesehener und teppichliebender Banker. Die Legende besagt, dass ein Teppichproduzent, der ihm Geld schuldete, unfertige Teppiche in Zahlung gab. Seyrafian ließ sie fertigstellen und entdeckte gleichzeitig das im Knüpfgeschäft steckende Potential. Ab 1939 fertigte er in seiner eigenen Manufaktur, die sich den höchsten Standards verschrieben hatte. Er beschäftigte renommierte Designer, die die klassischen Muster verfeinerten und weiterentwickelten. Als im aufstrebenden Nachkriegsdeutschland der Perserteppich zum Statussymbol aufstieg, gleichzeitig damit schnelles Geld gemacht wurde und ein Qualitätsverfall einsetzte, konterte man bei Seyrafian mit einer noch höheren Knüpfdichte und Qualität.

Von Haj Agha Reza Seyrafians sieben Söhnen taten sich besonders Mohammad und auch Sadegh hervor. Ihre gewöhnlich am oberen oder unteren Rand mit länglichen Schriftkartuschen signierten Teppiche erzielen auf Auktionen Höchstpreise. Die Inschriften gelten als Echtheitszertifikat, veränderten sich aber im Laufe der Zeit immer wieder, sodass sie zwar immer erkennbar, aber ziemlich uneinheitlich wurden. Da die Enkelgeneration bereits 24 männliche Nachkommen umfasst, von denen viele ebenfalls Teppiche produzieren, hat sich inzwischen auch in der Bewertung der Seyrafian-Teppiche eine Differenzierung entwickelt. Bei aller Qualität: es gibt bessere und schwächere Stücke. Und nicht überall, wo Seyrafian draufsteht, ist Seyrafian drin, denn ein starkes Label zieht Plagiatoren an. Und logischerweise kann es auch keine Seyrafians geben, die eine Datierung vor 1939 aufweisen.

Tigerteppiche - Gruppe tigerdarstellender Tibet-Teppiche
Die alten Germanen lagen auf Bärenfellen und tranken sich immer noch eins, heißt es in einem alten deutschen Studentenlied. Die tibetische Elite saß landestypisch auf Tigerfellen oder später auf Teppichen mit Tigermuster. Bei Europäern und Asiaten ging es um eins: Die Kraft und der Spirit des respekteinflößenden Tieres sollte auf den Menschen übergehen. Im Land des Dalai Lama variierten die Darstellungsformen von recht realistischen Abbildungen bis hin zu hochabstrakten einfarbig orangefarbenen, bräunlichen oder gelben bordürelosen Feldern mit minimalistischen, wellenförmigen Tigerstreifen.

Antike, vor 1920 hergestellte Tigerteppiche sind sehr selten. Es mögen insgesamt wohl nur noch 200 von ihnen erhalten sein. Wobei das Jahr 1920 im übertragenen Sinne das Ende einer genuin tibetischen Produktion meint. Für herausragende, echte Exemplare werden heute zwischen 20.000 und 30.000 Euro gezahlt. Ein Grund, warum leider immer wieder Fälschungen auftauchen, bei denen in alte, einfarbige Teppiche abstrahierte Tigerstreifen eingeknüpft wurden.

Als Ende der 1980er-Jahre Mimi Liptons Buch "The Tiger Rugs of Tibet" erschien, stürzten sich die Inneneinrichter der westlichen Welt auf jedes greifbare Exemplar. Ein Hype war entfacht, der dafür sorgte, dass bis heute Tigerteppiche geknüpft werden. Gerade in Nepal werden sehr hochwertige und auch dekorative Stücke reproduziert.

Der typische Tigerteppich hat das Format eines Khaden, dem klassischen tibetischen Sitz- und Schlafteppich (etwa 160 bis 180 cm x 75 bis 90 cm). Es gibt aber auch Sattelteppiche, Sitzquadrate, Thronsitze und -rückenlehnen, dazu Reihenteppiche in Läuferform, die häufig in kleine Quadrate zerschnitten einzeln verkauft wurden. Außergewöhnlich interessant sind die Stücke, die die besondere Funktion des Schutzes hatten. Zum Beispiel hingen an beiden Seiten der Eingänge zu Klöstern und vor dem Thronsaal des Dalai Lamas im Potala Palast (Lhasa / Tibet) fest gestopfte Kissenrollen mit Tigerteppichbezug. Wie Wächter schützten sie den Zugang. Ein anderes Beispiel für die Schutzfunktion des Tigermusters zeigt sich darin, dass auf Reisen wertvolles Gepäck mit Tigerteppichen abgedeckt wurde.

Offset-Knoten - Versetzt angeordneter Knüpfknoten
Das Wort "Offset-Knoten" oder "Offsetting" hört sich modern an, spontan denkt man an Offset-Druckverfahren und erwartet eine Erfindung des 20. Jahrhunderts in der Teppichknüpf-Technik. Aber gerade Teppichfreunde, die sich mit sehr alten nomadischen Knüpferzeugnissen der Turkmenen, anatolischen Teppichen oder der Jaff-Kurden beschäftigen, diskutieren die Bedeutung und den Effekt des Gebrauchs der Offset-Knoten intensiv. Manchmal kommen Offset-Knoten auch in historischen persischen Manufakturteppichen vor. Erfahrene Knüpferinnen benutzten Offset-Knoten als technischen Trick, um Muster mit Diagonalen mittels versetzt angeordneter Knüpfknoten eleganter gestalten zu können.

Normalerweise werden bei der Herstellung von Teppichen in ein Grundgewebe aus Kette und Schuss die Teppichknoten in regelmäßigen, gleichförmigen genau übereinanderliegenden Reihen eingeknüpft. Ein Knoten umfasst gewöhnlich zwei Kettfäden. Von der Teppichrückseite betrachtet, sieht man ein Raster ohne irgendwelche Unregelmäßigkeiten im Rhythmus der Struktur. Wenn Muster mit Diagonalen geknüpft werden, ergeben sich dann kleine Stufen wie bei einer Treppe auf einem Karopapier. Bei feinen Knüpfungen werden diese Treppchen kaum noch wahrgenommen. Bei Teppichen mit geringer Knotendichte wirken die Muster allerdings gestuft, steif und grob. Verwendet die Knüpferin aber Offset-Knoten, wirken die Diagonalen schärfer gezeichnet. Außerdem kann man Schrägen besser ansteigen lassen, um zum Beispiel Hexagone harmonischer zu gestalten.

Die Technik ist recht anspruchsvoll. Der normale Rhythmus der Knoten, die jeweils ein Paar Kettfäden umfassen, muss dazu unterbrochen werden. Ein einzelner Kettfaden wird übersprungen, sodass sich der folgende Knoten jeweils einen Kettfaden von zwei darunter liegenden Knoten teilt. Er ist "auf Lücke" eingeknüpft. Mit den versetzten Knoten fährt man Reihe um Reihe so lange fort, bis die diagonale Partie beendet ist. So halbiert sich bei der schrägen Musterlinie die Größe der Stufen am Rand. Anschließend wird wieder in den alten regelmäßigen Knoten-Rhytmus zurückgekehrt, weil man mit Offset-Knoten nur sehr schlecht scharfe vertikale Musterkanten zeichnen kann. Die große knüpftechnische Herausforderung ist es, wie elegant nun mit dem "leeren", übersprungenen Kettfaden umgegangen wird, der sich beim Wechseln von der normalen zur Offset-Knüpfung in einer Reihe ergibt. Dieser Kettfaden muss irgendwie überbrückt werden. Entweder er wird ohne Knoten leer belassen, oder ein Faden wird ohne Knoten lose darum geschlungen, um eine Verdickung zu vermeiden. Oder ein Knoten wird über drei Kettfäden eingebracht, oder zwei Knoten teilen sich drei Kettfäden ... die Möglichkeiten sind vielfältig.

Von der Teppichrückseite wirken die kleinen Knotenerhebungen im Bereich der Offset-Knoten wie kleine Perlen. Bei antiken Taschenfronten der Turkmenen oder, ganz typisch, der Jaff-Kurden aus dem nordwestlichen Persien kann man diese Perlstruktur sogar von der Vorderseite sehen, vorausgesetzt, der Flor ist schon sehr niedrig.
aus Carpet Magazin 04/15 (Teppiche)