Sind Sie ein Orientteppich-Kenner?
Eine kleine Orient-Warenkunde
Es ist zwar schön, wenn man auf die Frage "Sind Sie ein Orientteppich-Kenner?"mit "Ja" antworten kann. Doch alles kann niemand wissen. Vieles muss auch der versierte Fachmann nachschlagen. Mit unserem Ratespiel in diesem Heft möchten wir Ihnen Fachwissen auf eine unterhaltsame Weise vermitteln
Seide - Aus Kokons gewonnene Fasern
Seidenteppiche gelten als Inbegriff des Luxus. Dank moderner Veredelungs- und vor allem kostensparender Herstellungsverfahren sind die Teppiche der orientalischen Herrscher und westlichen Aristokratie heute auch für Normalbürger leistbar geworden.
Seide ist ein tierischer Rohstoff, nämlich der Faden des Seidenspinners Bombyx mori, der sich ausschließlich von den Blättern des Maulbeerbaumes ernährt. Die Konkons der Schmetterlinge bestehen aus einem einzigen durchgehenden, bis zu vier Kilometer langen Faden. Kurz vor dem Schlüpfen der Tiere werden diese in heißem Seifenwasser abgetötet. Anschließend werden die weißen Fäden, oft mittels Handarbeit, abgehaspelt und zu mehreren verzwirnt. Aus 50.000 Raupen erhält man etwa 120 Kilogramm Seide, pro Raupe etwa zwei Gramm. Da die einzelnen Fäden ununterbrochen fortlaufen, lassen sich sehr dünne Garne herstellen, die bei geringem Gewicht trotzdem reißfest sind. Dies ist ein Hauptvorteil gegenüber Wolle und pflanzlichen Fasern: mit dem dünnen Garn lassen sich kleinere Teppichknoten knüpfen und damit feinste Muster erzeugen. Die feinsten Teppiche der Welt sind alle komplett aus Seide gefertigt. In vielen hochwertigen Wollteppichen wird außerdem Seide für Glanzeffekte partiell für Musterakzente eingesetzt.
Seidenteppiche sind jedoch nicht unproblematisch. Es gibt gute Gründe, sie nicht in Belastungszonen einzusetzen. Besonders Teppiche, bei denen aus Kostengründen der Djuftiknoten verwandt wird, laufen sich schnell ab. Wegen ihres Eiweißgehaltes machen Hitze und Sonnenlicht die Fasern brüchig und bleichen die Farben aus. Es gibt ein berühmtes Beispiel für diesen Effekt. Im Museum für Angewandte Kunst in Wien ist der sagenhafte seidene safawidische Jagdteppich (Kaschan, Mittelpersien, erste Hälfte 16. Jahrhundert), der Jahrhunderte farbprächtig überdauerte durch eine relativ kurzzeitige publikumsfreundliche Präsentation mit Tages-Oberlicht nur noch ein fahler Schatten seiner selbst.
Harschang - Florales Allover-Muster
Das Harschang-Muster ist eines der beliebtesten floralen Feldmuster für Knüpfteppiche überhaupt. "Harschang" bedeutet auf Persisch "Krebs". In die Teppichliteratur eingeführt wurde der Begriff erst recht spät, nämlich 1953 von Cecil Edwards. Er stammt wahrscheinlich, wie viele andere Bezeichnungen für Muster und Symbole, aus den Teppichbazaren und wurde von Knüpferinnen und Händlern für ein ihnen traditionsfremdes Motiv benutzt.
Auf einem Gitterraster gruppieren sich um eine Kreuzblüte im Wechsel mit der "Harschang"-Rosette (eine Blüte mit ausgefranstem Rand) acht größere florale Motive. Meist stehen sich zwei unterschiedliche Palmettenpaare gegenüber und diagonal zwei leicht lanzettförmige Blüten. Wie die verwandten Herati- und Mina-Khani-, gehört das Harschang-Muster zur Gruppe der Floralstil-Ornamente und kann im unendlichen Rapport ohne Richtung wiederholt werden. Dabei wirkt es aber weniger streng als die anderen beiden Flächenmuster, weil die Blüten, Blätter und Palmetten häufig sehr varianten- und farblich abwechslungsreich gestaltet sind. Häufig bleibt zwischen den musterbildenden größeren Blüten noch genug Platz für eine Vielzahl kleinerer Streublumen, Wolkenbänder oder glückbringender Symbole. Heute zählt das Harschang-Muster zum klassischen Repertoire für Einrichtungsteppiche und wird von Indien über Pakistan und Persien bis Rumänien geknüpft, wobei besonders farblich helle Varianten "Ton in Ton" angesagt sind.
Die genaue Herkunft des Musters liegt im Dunklen. Es tauchte zuerst im frühen 18. Jahrhundert in Knüpfungen aus Mittel- und Westpersien auf. Der bekannte Teppichexperte Jim Ford gibt in seinem Buch "Der Orientteppich und seine Muster" an, dass ost- und südpersische Knüpfer in dieser Zeit in die nördlicheren Regionen umgesiedelt worden seien. Dort hätten sie es als Variante des Herati-Musters entwickelt. Werkstätten in Khorassan etablierten das Muster. Im 19. Jahrhundert war es im Kaukasus und der Karabagh-Region weit verbreitet.
Obwohl es viele nicht wissen: Weltweit sind Millionen mit dem Blüten-Ornament vertraut. Jeder, der Harry-Potter Filme gesehen hat, kennt es von einem riesigen antiken Harschang-Beschir, der dem Gemeinschaftsraum des Hauses Gryffindor im bekannten Zauber-Internat Hogwarts seine gediegene Atmosphäre verleiht.
Sarköy - Osteuropäische Provenienz für Flachgewebe
Der Name Sarköy geht zurück auf den alten türkischen Namen des im Südosten Serbiens gelegenen Ortes Pirot. Häufig wird dieser verwechselt mit der türkischen Kleinstadt und dem Landkreis arköy in der Provinz Tekirda in Ostthrakien. Sarköy ist als Produktionsstätte und Handelsplatz anzusehen, die Kelims stammen auch aus den umliegenden Gebieten vom heutigen Serbien bis nach Bulgarien.
Die Gewebe vom Balkan sind häufig viel feiner und deckenartiger im Griff als viele orientalische Kelims. Die Wolle der Sarköy ist fest und dünn gesponnen, die Muster deutlich osteuropäisch mit türkischen Einflüssen. Häufig tendieren die großformatigeren Stücke in Richtung Quadrat. Die Farbigkeit ist einzigartig. Sehr häufig ist der Fond in leuchtendem Rot gehalten; darauf ordnen sich florale Motive wie Lebensbäume oder Blumenvasen regelmäßig an. Abstrahierte Vögel sind ein weiteres typisches Motiv. Es gibt aber auch Gruppen, die mit weniger Rot auskommen. Hier besteht das Feld aus einem Allover-Muster, bei dem sich weiche rautenartige Formen aneinanderreihen. Die vorherrschenden Farben sind hier Grün und ein warmer Ockerton. Ergänzt wird die Palette mit tiefem Blau, Wollweiß und wenig Gelb. Ein interessantes gestalterisches Element sind auch die rhythmisch über das Feld verteilten Lazylines.
Man weiß heute nicht mehr, ob die anatolischen Elemente in der Mustertradition der Sarköy-Flachgewebe auf die eingewanderten Turkvölker im 7. Jahrhundert nach Christus oder auf die Zeit der osmanischen Besetzung seit dem 15. Jahrhundert zurückgehen. Damals zogen zahlreiche anatolische Yörükenstämme in die frisch eroberten Gebiete des Balkans. Die Gebirgsregion war spätestens ab dieser Zeit geprägt von Schafhaltung, der Ort selbst wurde zum Umschlagplatz für hochwertige Wolle.
Ersari - Turkmenenstamm
Die Ersari sind ein Turmenenstamm, der hauptsächlich im Norden Afghanistans und in Turkmenistan am mittleren Lauf des Amu-Darja-Flusses siedelt. Die klassischen roten Afghanteppiche werden von Mitgliedern dieser Volksgruppe geknüpft. Als Folge der Afghanistan-Kriege leben einige Untergruppen heute an der pakistanisch-afghanischen Grenze und betreiben dort Knüpfwerkstätten.
Die Ersari-Teppiche sind leicht an ihrer einheitlich tiefroten Farbe zu erkennen. Als strengen Flächenrapport zeigen sie meist prägnante, auf einem Gitter angeordnete Achtecke, eingefasst von einer relativ schmalen Bordüre. Diese Oktogone dienten ursprünglich - wie Wappen - als Erkennungszeichen der Turkmenenstämme. In der neueren Produktion handelt es sich oft um Abwandlungen und Vereinfachungen des für die Ersari typischen Gülli-Göls. Dies zeigt kleine, wie dreiblättrige Kleeblätter aussehende Pflanzenformen. Wegen der großen Achtecke wurde das Muster im Handel als "Elefantentritt" bezeichnet. Generell finden sich aber bei den Motiven Einflüsse aller Ersari-Unterstämme. Von der Rückseite der Teppiche her lässt sich ihre Grundgewebe-Struktur mit der halbgeschichteten Kette gut erkennen. Die Knoten sind asymmetrisch.
Von der heute produzierten Ware unterscheiden sich die Ersari-Teppiche aus dem 19. Jahrhundert deutlich. Die ethnische Gruppe der Ersaren bestand aus zahlreichen Untergruppen, deren Web- und Knüpferzeugnisse sich heute noch anhand bestimmter Merkmale identifizieren lassen. Bekannt sind zum Beispiel die Kizil-Ayak oder die Beschir. Da das Hauptsiedlungsgebiet ab dem 17. Jahrhundert am fruchtbaren Mittellauf des Amu Daja lag, gaben sie schon früh das kriegerische Nomadentum auf und wandten sich einem sesshaften, friedlichen Leben zu. Das Teppichknüpfen wurde zur Einnahmequelle, obwohl auch Gegenstände in der nomadischen Tradition wie Taschen und Behänge weiter hergestellt wurden. Ein Teil der Ersari, die auf der dem Khanat Buchara zugehörigen Uferseite des Amu Darja lebten, nahm Einflüsse der farbenprächtigen Ikat-Seidenstoffe der Usbeken auf.
Die Ersari-Beshir sind die buntesten aller Turkmenen-Knüpfungen mit hellen Farben. Gelb, Weiß, Rottöne und Grün strahlen in den Mustern, die jeden martialischen Wappencharakter verloren haben, der für turkmenische Arbeiten sonst typisch ist.
aus
Carpet Magazin 01/16
(Teppiche)