Belgien – gutes Konsumklima trotz Unsicherheiten


Die Belgier sind trotz Terroranschlägen, Reformstau und komplexem Staatsgebilde optimistisch und in Kauflaune. Das wirtschaftliche Kraftzentrum liegt im flämischen Landesteil. Dort arbeitet auch die wichtige Bodenbelagsindustrie.

Belgien wurde 1830 nach der Loslösung vom Vereinigten Königreich der Niederlande unabhängig und war zu dieser Zeit ein Einheitsstaat. Mit Französisch als einziger offizieller Sprache wurde die Verwaltung frankophon dominiert. Der zahlenmäßig überwiegende flämische Teil der Bevölkerung musste lange für seine Rechte und die Anerkennung seiner Sprache und Kultur kämpfen. Mit der Festlegung der Sprachengrenzen im Jahr 1963 wurde der Grundstein für den Föderalisierungsprozess gelegt, der in den 1970er-Jahren einsetzte.

Komplexes Staatsgebilde

Es entstand ein zweigliedriges Staatssystem aus Gemeinschaften und Regionen. Die Gemeinschaften werden von drei Sprachgruppen gebildet: der flämischen, der französischen und der deutschen (ehemals deutsche Gebiete gibt es im Osten Belgiens). Neben diesen Gemeinschaften existieren drei Regionen: die wallonische, die flämische und die Region Brüssel-Hauptstadt. Gemeinschaften und Regionen sind geografisch nicht deckungsgleich und auch für jeweils andere Aufgabenbereiche zuständig.

Gespaltene Hauptstadt

Noch komplizierter wird es bei der Betrachtung der Hauptstadt Brüssel. Dort ist die klare Trennung nach Gemeinschaften und Regionen kaum möglich. In der offiziell zweisprachigen Metropole leben über 80 % Frankophone; wobei Brüssel historisch gesehen eine flämische Stadt ist und deshalb Flamen und Wallonen nahezu unvereinbare Standpunkte zur Hauptstadt einnehmen. Auf recht komplizierte Weise hat man es aber auch hier geschafft, das Prinzip des zweigliedrigen Staatssystems zu realisieren. Die Komplexität dieser Staatskonstruktion erklärt, warum auch Regierungsbildungen in Belgien oftmals äußerst schwierig und langwierig sind.

Mutterstaat der EU

Brüssel, das Zentrum der Region Brüssel-Hauptstadt, ist seit dem Ende des Zweiten Weltkrieg sehr international geworden. Die Stadt wurde 1958 Sitz der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und ist damit die Zentrale der heutigen EU. Weiteren Prestigezuwachs gab es 1967 mit dem Umzug der NATO von Paris nach Brüssel. Die Ballung machtvoller Organisationen hat die Metropole über den Status der europäischen Hauptstadt hinaus zu einem Zentrum internationaler Politik gemacht. Auf die Region Brüssel-Hauptstadt entfallen bei einem Anteil von rund 10 % an der Gesamtbevölkerung fast 20 % des belgischen Bruttoinlandproduktes (BIP).

Vorreiter bei industrieller Revolution

Die wirtschaftlich stärkste der drei Regionen ist Flandern mit einem BIP-Anteil von etwa 60 %. Hier haben sich die Relationen grundlegend verschoben. Denn nach dem Beginn der Industrialisierung war eigentlich die Wallonie mit ihrer aufblühenden Stahlindustrie die führende Wirtschaftskraft. Belgien gilt als das erste Land auf dem europäischen Kontinent, in dem sich die industrielle Revolution ankündigte.

Schwergewicht Flandern

Im Zuge des allgemeinen Strukturwandels hin zu dienstleistungsorientierten Volkswirtschaften hat sich Flandern mit der Metropole Antwerpen zum wirtschaftlichen Kraftzentrum Belgiens entwickelt. Dort befindet sich der nach Rotterdam zweitgrößte Hafen Europas. Das Wirtschaftswachstum wird nach Prognosen des Föderalen Planungsbüros in Flandern im laufenden Jahr um 0,4 Prozentpunkte höher ausfallen als in der Wallonie.

Brexit wird einiges kosten

Belgien wird den Brexit stark zu spüren bekommen. Die Ausfuhren nach Großbritannien machen zwar nur 5 % der belgischen Exporte aus. Jedoch wurde damit 2015 ein Überschuss von 14,5 Mrd. EUR erzielt. Besonders wird es als eine der Schlüsselindustrien die Kfz-Branche treffen. Denn zuletzt gingen mehr als 20 % der belgischen Exporte von Kraftfahrzeugen auf die britische Insel. Der Anteil der Importe aus Großbritannien an den Gesamteinfuhren lag 2015 bei 9 %.

Sorgenkind Salafismus

Noch nicht überwunden sind die Terroranschläge der jüngsten Vergangenheit. Sie haben spürbar am Wirtschaftswachstum und auch am Image des Wirtschaftsstandorts Belgien genagt. Brüssel bietet mit seiner komplexen Verwaltungsstruktur, der Vielfalt an Nationalitäten und Religionsgemeinschaften sowie der partiell verbreiteten Armut das Umfeld für die Bildung gesellschaftsfeindlicher Gruppierungen. Sorgen bereitet der Salafismus.

Reformbedarf

Die Regierung von Premierminister Charles Michel ist im Herbst 2014 mit dem Anspruch angetreten, sich auf lange verschleppte Wirtschaftsreformen zu konzentrieren. Einer der Hauptansatzpunkte dabei ist der Arbeitsmarkt. Hier sind - ähnlich wie beim Nachbarn Frankreich - starke Gewerkschaften für geringe Flexibilität und häufige Streiks verantwortlich. 50 % der Beschäftigten sind gewerkschaftlich organisiert. Zu hohe Arbeitskosten mindern die Wettbewerbsfähigkeit. Das liegt u.a. an der automatischen Lohnindexierung, d.h. die Löhne und Sozialleistungen sind an die Preise gebunden. Laut Eurostat wies Belgien 2015 die nach Dänemark EU-weit höchsten Arbeitskosten pro Stunde auf. Aber erste Erfolge sind sichtbar, etwa eine Rentenreform, die u.a. das Renteneintrittsalter heraufsetzt, oder die 2015 beschlossene Reduzierung der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung.

Hohe Lebenshaltungskosten

Belgien ist zwar ein Hochlohnland, die verfügbaren Einkommen fallen jedoch nicht aus dem Rahmen. Der durchschnittliche Bruttomonatslohn lag 2015 laut EU-Kommission bei 3.350 EUR. Die Steigerung des Reallohnniveaus wurde für 2016 mit 0,7 % angegeben. Laut OECD beträgt das bereinigte verfügbare Pro-Kopf-Haushaltsnettoeinkommen im Durchschnitt jährlich 28.700 USD (24.428 EUR); der OECD-Durchschnitt sind 29.016 USD. Die Konsumausgaben pro Kopf belaufen sich nach Berechnungen von Planet Retail derzeit auf rund 19.610 EUR. Das summiert sich zu einem Konsumgütermarkt von insgesamt rund 225 Mrd. EUR. Den größten Teil ihres Einkommens müssen die Belgier für Wohnraum ausgeben. Darauf entfallen fast 30 % der Ausgaben, auf Nahrungsmittel und Getränke nur etwa 15 %. Lebenshaltungskosten und Nahrungsmittelpreise liegen in Belgien um etwa 10 % über dem EU-Niveau.

Gutes Konsumklima

Trotz der Umstrukturierungsprozesse und allgemein unruhiger Zeiten ist das Konsumklima in Belgien auf anhaltend hohem Niveau. Wie die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) ermittelt hat, sind die Belgier derzeit optimistischer als im Vorjahr hinsichtlich der Entwicklung der Gesamtwirtschaft und der persönlichen Einkommenssituation.
Jürgen Kneiding
aus BTH Heimtex 09/17 (Handel)