Strukturwandel | Digitalisierung | Corona : "Dreifacher Tsunami für die Innenstädte"

Hamburg. Der stationäre Einzelhandel in Deutschland steckt mitten im wohl größten Umbruch seiner Geschichte. Seit Jahren klagen Geschäftsinhaber schon über den wachsenden Online-Handel, der ihnen den Umsatz abjagt. Jetzt macht die Corona-Krise alles noch schwieriger. Trotzdem sind Experten sich einig: Die Innenstadt als Handelszentrum ist nicht verloren, sie muss sich nur deutlich verändern. Kreative Lösungen, engagierte Gewerbetreibende und die Unterstützung der Politik sind gefragt.


Immer mehr Leerstände, immer weniger Frequenz und damit sinkender Umsatz - schon vor Corona schwächelten die deutschen Innenstädte und lösten bei den Verbrauchern bestenfalls lauwarme Gefühle aus. So veröffentlichte das Kölner Institut für Handelsforschung (IFH) 2019 eine Befragung von knapp 60.000 Citybesuchern in 116 Städten, die die Zentren im Durchschnitt nur mit der Schulnote "3+" bewerteten. Und seitdem ist die Situation nicht besser geworden. "Die Innenstädte haben es mit einem dreifachen Tsunami zu tun", erklärt IFH-Geschäftsführer Boris Hedde und meint damit den Strukturwandel im Einzelhandel, die Digitalisierung und die Corona-Pandemie.

Einer aktuellen Studie des Handelsverbandes Deutschland (HDE) zufolge sind die Zahlen alarmierend: Nahezu 80 Prozent der stationären Händler sehen ihre Existenz bedroht. Konkret geht der Verband davon aus, dass bis zu 50.000 Geschäfte durch die Corona-Krise schließen müssen. Vor allem Modeketten kriseln vor sich hin, aber auch der Entschluss des Warenhauskonzerns Galeria Karstadt Kaufhof, 50 seiner insgesamt 172 Häuser zu schließen, stellt Stadtplaner, Politiker und Gewerbetreibende vor die Herausforderung, eine Verödung der Innenstädte durch innovative Impulse aufzuhalten. Denn dann, da sind die Experten sich einig, könne der Umbruch auch eine Chance für die Innenstadt als Handelszentrum sein.

Um den örtlichen Einzelhandel vor allem auch in den ländlicheren Regionen zu stärken, haben der HDE und der Deutsche Städte- und Gemeindebund (DStGB) bereits 2016 die "Allianz für Innenstädte" ins Leben gerufen. "Wir müssen den Niedergang unserer Innenstädte verhindern und diese als vitale Orte der Kommunikation erhalten", so DStGB-Geschäftsführer Dr. Gerd Landsberg. Um das zu erreichen, müssten Handel und Kommunen an einem Strang ziehen.

Fit für die
digitale Zukunft

Zum Beispiel beim Thema Digitalisierung. Zwar gelte nach wie vor, dass die Präsenz, das Angebot, Waren anzufassen, auszuprobieren und sofort mitnehmen zu können, als großes Plus des stationären Handels hervorzuheben sei. Ohne digitale Kanäle werde es in Zukunft aber nicht gehen. "Händler und Kommunen müssen die Chancen der Digitalisierung nutzen", findet HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth. "Es geht darum, den Kunden mit neuen Services echten Mehrwert anzubieten." Es müsse eine Verzahnung von stationärem Geschäft und Online-Handel geben. Schließlich praktizierten die meisten Kunden heute eine Multi-Channel-Strategie und kauften sowohl lokal als auch über das Internet ein.

Lokale Online-
Marktplätze schaffen

Auch in einer Vernetzung auf lokalen Online-Marktplätzen sieht die "Allianz für Innenstädte" ein sinnvolles Tool. Hier können stationäre Händler Warensortimente im Internet präsentieren und in der jeweiligen Region - oder sogar darüber hinaus - auf sich aufmerksam machen.

Eine weitere Grundvoraussetzung für die "Stärkung der Mitte" sehen DStGB und HDE in einer engeren Abstimmung aller Innenstadtakteure und wenden sich damit einerseits an die Investoren. "Die Eigentümer von Handelsimmobilien sind aufgefordert, eine angemessene Mietpreispolitik zu betreiben", betonen beide Geschäftsführer. "Sie müssen vermehrt neue Formen, wie etwa frequenzabhängige Mietstaffelungen umsetzen." Dies könne gerade den inhabergeführten Einzelhandel stützen. Andererseits sollte aber auch eine aktive Zusammenarbeit von Politik, Handel und Immobilieneigentümern im Sinne eines funktionierenden Stadtmarketings stattfinden. Ein bereits erprobtes Tool sind zum Beispiel Business Imrovement Districts (BID), die in Form privater Initiativen die Attraktivität eines Einkaufsstandortes verbessern, mit dem Ziel, die Frequenz und die Umsätze zu erhöhen (Siehe S. 37).

In Freiburg zeigen neun Traditionsgeschäfte, darunter der Bettenfachhandel Stiegeler Schlafkomfort, dass es sich lohnt, sich im Einsatz gegen die Verödung der Innenstädte zusammenzutun. Als Kooperation "Herzschlag Freiburg" unterstützen sie sich gegenseitig, organisieren branchenübergreifende Kundenevents und zeigen lokalpolitisches Engagement. (Siehe S. 40)

Eine gewissenhafte Überprüfung städtebaulicher Pläne im Sinne des Handels, die Umsetzung moderner Verkehrs- und Logistik-Konzepte sowie eine Reform der Ladenöffnungszeiten hin zu mehr Flexibilität sind weitere Punkte, für die die "Allianz für die Innenstadt" sich einsetzt. Anfang des Jahres hatte der HDE alle Maßnahmen in einem offenen Brief an das Bundesministerium des Inneren für Bau und Heimat in Form des 11-Punkte-Plans zusammengefasst.

Angesichts drohender Insolvenzen im innerstädtischen Handel durch die Corona-Krise erneuerte der Verband im August seine Forderung nach Unterstützung von Kommunen und Handel. Um einer Verödung des Standortes Innenstadt entgegenzuwirken, schlägt er ein mit mindestens 500 Millionen Euro jährlich dotiertes Sonderprogramm der Städtebauförderung vor, sowie einen niedrigschwelligen Kulturfonds. Dieser soll kreativwirtschaftlichen Akteuren Mittel an die Hand geben, die Lebendigkeit und Frequenz in den Zentren zu stärken.

Neue Konzepte
für die City

Damit unterstützt der HDE Meinungen von Experten wie Stadtforscher Professor Thomas Krüger von der HafenCity Universität Hamburg, die die Stadtzentren neu ausrichten wollen. "Die Innenstädte brauchen innovative Konzepte", meint Krüger (Interview siehe Seite 42). Vorstellbar ist für ihn ist beispielsweise eine Mischung aus Handel, Gastronomie, Büro, Kunst und Kultur. Auch bislang ungewohnte Ladenkonzepte haben nach Expertenmeinung eine Zukunft. In diesem Sinne wagt der Bochumer Möbelfilialist Hardeck den Schritt von der grünen Wiese in die Innenstadt und eröffnet Anfang 2021 ein Geschäft in der Hamburger City (siehe S. 45). Vielfalt ist gefragt und besondere Angebote, die die Menschen in die City locken.

Die knapp 60.000 Citybesucher, die das Institut für Handelsforschung im Rahmen seiner Studie befragte, sehen das ähnlich. Zwar ist das Einzelhandelsangebot für sie nach wie vor das wichtigste Merkmal einer attraktiven Innenstadt. Sie bemängeln jedoch, dass es zu wenig Vielfalt, zu wenig Erlebnis und zu wenig Komfort in den Städten gebe. Was die Kunden wollen ist ein breites Angebot - nicht die ewig gleichen Ketten. Und sie wollen, dass der Besuch in der City ein Erlebnis wird, entweder weil er sich verbinden lässt mit Essen oder Kultur, oder weil er besonders angenehm und komfortabel ist.

Ob es den Innenstadtakteuren bereits gelungen ist, einiges zum Positiven zu verändern und welche Auswirkungen die Corona-Pandemie genau auf das Einkaufsverhalten hat - Boris Hedde behält es im Auge. Derzeit bereitet der IFH-Geschäftsführer die nächste große Kundenbefragung vor, die alle zwei Jahre stattfindet. Die Ergebnisse werden Anfang 2021 veröffentlicht.
aus Haustex 10/20 (Handel)