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Kreislaufwirtschaft – Bedeutung, Herausforderungen, Chancen

Auf der Domotex wurde das Thema Kreislaufwirtschaft aus unterschiedlichen Blickwinkeln diskutiert. Einhellige Meinung dabei: Spätestens jetzt muss mit der Transformation begonnen werden! Und das gilt für alle Branchen.

Der Bedeutung, den Herausforderungen und den Chancen der Kreislaufwirtschaft für die Bodenbelagsindustrie ist die Domotex 2023 im Rahmen ihres Vortragsprogramms nachgegangen. Das wichtige Zukunftsthema wurde auf der Messe aus gleich drei Perspektiven beleuchtet: Heimtex-Hauptgeschäftsführer Martin Auerbach lieferte die theoretischen Grundlagen, TFI-Direktor Dr. Bayram Aslan stellte die praktischen Herausforderungen zusammen mit einigen Lösungsbeispielen vor und in der anschließenden Podiumsdiskussion war auch die Herstellerseite in Person von Findeisen-Geschäftsführer Stephan Naacke vertreten.

Die Zukunft hat schon begonnen

Wobei die Zukunft beim Thema Kreislaufwirtschaft – da sind sich alle drei einig – schon längst begonnen hat. Selbst wenn die geplanten Vorgaben der EU teilweise noch nicht endgültig beschlossen oder in nationales Recht umgesetzt worden sind, ist es sicher, dass sie kommen werden. Und in der Industrie gibt es auch schon seit längerem Aktivitäten in diese Richtung. Aber Bayram Aslan warnt: Wie in allen Transformationsprozessen gebe es neben den Vorreitern und Nachahmern noch die dritte Gruppe von Unternehmen, die zu spät dran sind und dann vom Markt verschwinden. Höchste Zeit also, sich mit der Thematik zu beschäftigen.

„Kreislaufwirtschaft ist anerkanntermaßen die Methode, mit der wir den CO2-Ausstoß am effektivsten reduzieren können und die Entkopplung zwischen Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch hinbekommen“, stellt Martin Auerbach fest. Er beschreibt sie als Abkehr vom bislang vorherrschenden linearen Abfallstrom (Produktion – Vertrieb – Nutzung – Müll). An dessen Stelle tritt ein Wertstoffkreislauf (Produktion – Vertrieb – Nutzung – Ausbau – Recycling separierter Bestandteile – Rückführung in die Produktion) (siehe Grafik).

Damit das neue Modell funktioniert, braucht es kreislauffähiges Material – möglichst ohne Störstoffe – sowie ein kreislauffähiges Produktdesign, das nach der Nutzung die sortenreine Trennung der Komponenten ermöglicht. Außerdem müssen die Produktbestandteile nachverfolgbar sein, um auch noch nach Jahren der Nutzung zu wissen, welche Materialien mit welchen Eigenschaften verwendet wurden. Idealerweise geschieht dies über eine Datenbank, die technische Entwicklungen berücksichtigen kann, und einen digitalen Produktpass wie ihn die Sustainable Product Initiative (Ökodesing-Verordnung) der EU bereits vorsieht. Eine weitere Voraussetzung ist ein funktionierendes Rücknahmesystem.

Schlüsselfaktoren definiert

Aus diesen Anforderungen und den Erfahrungen, die man bei der Arbeit an Problemstellungen mit Bezug zur Kreislaufwirtschaft gemacht hat, wurden beim TFI Institut für Bodensysteme an der RWTH Aachen fünf Schlüsselfaktoren benannt, die es zu beachten gilt. Bayram Aslan nennt als erstes die intelligente Auswahl und Entwicklung von Materialien, Prozessen und einem Design, bei dem ein Produkt gegebenenfalls auch komplett in Frage gestellt und neu entwickelt werden muss. Zwingend notwendig sei das aber nicht in jedem Fall: Häufig genügt die neue Kombination von bereits Vorhandenem. Dazu empfiehlt der Direktor unbedingt den Blick über den Tellerrand in benachbarte Branchen, um brauchbare Werkstoffe zu finden und Kreisläufe, in welche die eigenen Materialien eingebracht werden können.

Schlüsselfaktor Nr. 2 ist der transparente Informationsaustausch über das Material für die Dauer der Nutzung und die anschließende sortenreine Trennung. Die Logistik gehört ebenfalls zu den Schlüsselfaktoren: Nach dem Ausbau müssen die Baustoffe gesammelt und sortiert werden, um sie dann zu recyceln. Um praktikable Kreislaufkonzepte zu entwickeln und umzusetzen, braucht es außerdem eine gemeinsame, harmonisierte Terminologie. Gegenwärtig gebe es noch ein unterschiedliches Verständnis für den Themenkomplex, würden voneinander abweichende Begrifflichkeiten verwendet. Aus- und Weiterbildung entlang der Lieferkette sieht Aslan daher als elementar wichtig und vierten Schlüsselfaktor.

Schließlich ergibt sich aus der Kreislaufwirtschaft unter Umständen die Notwendigkeit, vielleicht aber auch die Möglichkeit neuer Geschäftsmodelle. Der TFI-Direktor verdeutlicht den Schlüsselfaktor Nr. 5 am Beispiel eines bereits abgeschlossenen Projektes aus dem Bereich Sauberlauf: Hier wurden zunächst die technischen Voraussetzungen für die Trennung von textiler Oberschicht und Gummirücken geschaffen. Das übernimmt nun ein Reinigungsdienstleister, der bei der letzten Reinigung durch Zugaben in seinem Prozesswasser den Klebstoff im Produkt löst und beide Schichten trennbar macht. Eine neue Möglichkeit zur Wertschöpfung ist entstanden.

Kooperationen sind unverzichtbar

Klingt insgesamt anspruchsvoll – ist es auch. Aufgrund der Komplexität und der Erfordernisse, die teils über den eigenen Einflussbereich, die technischen, finanziellen oder personellen Möglichkeiten hinaus gehen, empfehlen alle drei Teilnehmer an der Podiumsdiskussion, sich in der Branche über Netzwerke und Verbände auszutauschen, sich Unterstützung von Instituten und Forschungseinrichtungen zu holen und entlang der gesamten Wertschöpfungskette Kooperationen zu schließen – auch mit branchenübergreifend tätigen Partnern wie Logistikern oder Recyclern –, um den Kreislauf tatsächlich schließen zu können. Stephan Naacke ist ohnehin davon überzeugt, dass das hohe Maß an erforderlicher Transparenz bezüglich Materialien, Verarbeitung und Rückführung dafür sorgen wird, die klassische Dreiteilung in Hersteller, Händler und Verarbeiter aufzubrechen. Das Handwerk nicht außen vor zu lassen, ist dem Geschäftsführer von Nadelvlieshersteller Findeisen grundsätzlich wichtig, denn: „Wenn wir Produkte verändern, verändern wir auch deren Verarbeitung. Das sorgt für Unsicherheit bei denjenigen, die jetzt einzelne Schritte beim Einbau umstellen müssen.“

Und die Verbraucherinnen und Verbraucher? Während Naacke darauf hinweist, dass aktuell in der besonders wettbewerbsintensiven Baubranche für nachhaltigere oder kreislauffähige Produkte höhere Preise kaum zu erzielen sind, blickt Heimtex-Geschäftsführer Auerbach schon in die Zukunft: Die Generation Z könne sich die Mehrkosten für derartige Erzeugnisse heute noch nicht leisten. Aber ihr Lebensstil sei bereits von Nachhaltigkeit geprägt und nach Ausbildung oder Studium steige ihr Budget für nachhaltige Einrichtungsprodukte.

Branche ist stark genug für die Transformation

Angst, dass der Transformationsprozess für europäische Hersteller zu einem Wettbewerbsnachteil werden oder die von kleinen und mittleren Unternehmen geprägte Branche insgesamt überfordern könnte, haben die drei Diskussionsteilnehmer nicht. Die EU habe aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt – Stichwort: Reach-Verordnung – und werde es verhindern, dass außereuropäische Produzenten die strengen hiesigen Vorgaben umgehen könnten, stellt Martin Auerbach fest. Im Gegenteil: Wenn Europa in der Kreislaufwirtschaft eine Vorreiterrolle übernehme, ließen sich die hier entwickelten Produkte, Systeme und Konzepte in Zukunft exportieren, so seine Überzeugung.

Stephan Naacke sieht die kleinen und mittleren Firmen nah am Produkt, mit hoher Kompetenz und kurzen Entscheidungswegen ausgestattet. Dadurch gehe die Entwicklungsarbeit in Richtung Kreislaufwirtschaft sogar besser voran als in großen Konzernen, selbst wenn die über höhere Budgets und mehr Personal verfügten. Und Bayram Aslan weist auf finanzielle Unterstützung durch staatliche Förderprogramme hin, die Hersteller erhalten können, welche die Nachhaltigkeit ihrer Produkte nachweisen: „Auf EU-Ebene geschieht das über das System Levels, auf nationaler über das Qualitätssiegel Nachhaltige Gebäude.“

Wichtig sei es aber, jetzt mit der Transformation zu beginnen. „Man muss ja nicht sofort alles kreislauffähig machen“, meint Martin Auerbach und empfiehlt, sich eine Produktlinie herauszugreifen und dort Erfahrungen zu sammeln. Und mit Blick auf den Gesetzgeber appelliert er an die Branche: „Wir müssen vor die Welle kommen, um sie zu reiten. Wir müssen die Anforderungen benennen, Lösungen erarbeiten und dann an die Politik adressieren.“ Auch dazu ist Zusammenarbeit erforderlich.

Thomas Pfnorr



Ist nachhaltig dasselbe wie kreislauffähig?

Heimtex-Hauptgeschäftsführer Martin Auerbach hat in seinem Vortrag darauf hingewiesen, dass Produkte auf unterschiedliche Weise nachhaltig sein können: indem ihre Lebensdauer verlängert wird, sie anpassungsfähig gestaltet werden und repariert werden können, nach der Nutzung Downcycling betrieben wird, bei der Herstellung recycelte Materialien zum Einsatz kommen, fossile Rohstoffe und Energien durch nachwachsende und erneuerbare ersetzt werden, der Energieverbrauch und die CO2-Emissionen in der Produktion reduziert, Material eingespart und somit Ressourcen effizienter genutzt werden. Kreislauffähig ist ein Produkt aber erst, wenn sich seine Bestandteile nach der Nutzung sortenrein voneinander trennen, recyceln und erneut dem Materialkreislauf zuführen lassen.

Das bedeutet: Jedes kreislauffähige Produkt ist nachhaltig, aber nicht jedes nachhaltige Produkt ist kreislauffähig.



Mehr Infos im Internet

- Domotex Martin Auerbach: Kreislaufwirtschaft in der Bodenbelagsindustrie - so erklärt, dass es jeder versteht!
- Domotex Bayram Aslan: Kreislaufwirtschaft in der Bodenbelagsindustrie: Herausforderung, Ansätze, Lösungen
- Domotex Podiumsdiskussion
- Themenseite vom Kompetenz-Zentrum Textil + Sonnenschutz
Kreislaufwirtschaft – Bedeutung, Herausforderungen, Chancen
Foto/Grafik: Screenshot domotex.de
Stephan Naacke (Findeisen), Martin Auerbach (Heimtex) und Dr. Bayram Alsan (TFI) diskutieren auf der Domotex über Aspekte der Kreislaufwirtschaft.
Kreislaufwirtschaft – Bedeutung, Herausforderungen, Chancen
Foto/Grafik: SN-Verlag
Lineare Abfallwirtschaft vs. Kreislaufwirtschaft
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