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Norm definiert erstmals Treibhausgasneutralität

Seit November 2023 definiert mit der ISO 14068-1 erstmals eine Norm den Begriff „Treibhausgasneutralität“. Sie soll für Klarheit und Orientierung bei diesem komplexen Thema sorgen. Doch es gibt Kritik, die Norm sei zu ungenau und lasse Schlupflöcher offen.

Was unter dem Wort „klimaneutral“ zu verstehen ist, war bislang nicht eindeutig festgelegt. Der Begriff wurde und wird speziell in der Werbung inflationär gebraucht, häufig ohne dass klar wird, was genau damit gemeint ist. Verbraucherschützer haben eine ganze Reihe von Klagen gegen derartig unspezifische und weitreichende Werbeversprechen angestrengt – und gewonnen. Dabei ist das Ziel, klimaneutral zu wirtschaften, zu produzieren und zu konsumieren ein Kernelement nahezu jeder Nachhaltigkeitsstrategie. Höchste Zeit also für eine Definition, die für Klarheit und eine gemeinsame Grundlage sorgt.

Ein wesentliches Element der Klimaneutralität ist die Reduzierung der Emissionen von Treibhausgasen (THG) auf Null. Mit der im November 2023 eingeführten ISO 14068-1 („Management des Klimawandels – Übergang zu Netto-Null – Teil 1: Treibhausgasneutralität“) gibt es nun eine Norm, die zumindest diesen Teilbereich definiert. Der Zusatz „Teil 1“ weist zudem darauf hin, dass weitere folgen werden.

THG-Neutralität als systematischer Prozess

Angewendet werden kann die ISO 14068-1 für Organisationen – also etwa Unternehmen oder Behörden – und Produkte, sprich Waren oder Dienstleistungen einschließlich Gebäuden und Veranstaltungen. Sie enthält die Anforderungen für einen systematischen Prozess in acht Schritten von der Verpflichtung zur bis zur Geltendmachung von THG-Neutralität (siehe Schaubild „Schritte zur THG-Neutralität nach ISO 14068-1).

Die ersten beiden Schritte mit der Verpflichtung zur Emissionsneutralität und der Festlegung der Grenzen erfolgen einmalig. Die Punkte 3 bis 8 – Implementierung und Umsetzung – müssen für jeden Berichtszeitraum erneut durchgeführt werden, denn das Ziel ist eine kontinuierliche Verbesserung. So fordert die Norm, dass nach einer gewissen Zeit alle technisch machbaren Maßnahmen zu CO2-Reduzierung ergriffen werden, der THG-Ausstoß kontinuierlich sinkt und schließlich nur noch die absolut unvermeidbaren Emissionen mit dem Kauf von Zertifikaten kompensiert werden.

Das Ziel: Fakten statt Greenwashing

Obwohl die ISO 14068-1 kein klassisches Managementsystem ist, beinhaltet sie doch entsprechende Ansätze. Beispielsweise muss sich die oberste Leitungsebene zur THG-Neutralität verpflichten. Auch die regelmäßige Neubewertung ergriffener Maßnahmen und Effekte geht in diese Richtung.

Der gesamte Prozess mündet in die Geltendmachung der Erreichten Treibhausgasneutralität, also die valide Behauptung, als Produkt oder Organisation THG-neutral zu sein. Damit soll Missverständnissen vorgebeugt, Transparenz geschaffen und Greenwashing verhindert werden.

Kritik vom Umweltbundesamt

Nach der Veröffentlichung der ISO 14068-1 gab es viele positive Reaktionen. Auch das Umweltbundesamt (UBA) sieht eine Reihe von Stärken – unter anderem mehr Klarheit bei den Begrifflichkeiten, die Einführung wichtiger Prinzipien sowie systematischer und transparenter Prozesse und den niederschwelligen Ansatz, über einen Managementplan in das Klimamanagement einzusteigen. Aber die Behörde konstatiert in einer Stellungnahme auch „erhebliche Schwächen“.

Erstens erlaube die Norm Aussagen zur THG-­Neutralität selbst bei hohen verbliebenen Emissionen, und zwar nicht nur beim Einstieg in den Prozess, sondern auch in fortgeschrittenen Phasen. Das Problem sieht das UBA in der Definition unvermeidbarer Emissionen als solche, die nach Umsetzung aller technischen und ökonomisch machbaren Emissionsminderungen verbleiben. Der Verweis auf die wirtschaftliche Machbarkeit eröffne ein Schlupfloch, um lediglich sehr unambitionierte Emissionsminderungen umzusetzen. Die Norm enthalte keine Anforderungen an ambitionierte und wirksame Minderungen, die im Einklang mit dem Pariser Klimaabkkommen stehen. Weder der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen noch die Anpassung klimaschädlicher Geschäftsprozesse werde gefordert.

Zweitens behandele die ISO 14068-1 die THG-Entnahmen nicht angemessen. Gemeint sind Maßnahmen zur (Rück-)Bindung von Treibhausgasen. Die könnten zu schwerwiegenden Konflikten in Bezug auf Biodiversität und Landnutzung führen. Diese Zielkonflikte würden in der Norm nicht ausreichend gewürdigt. Es fehle an spezifischen Anforderungen oder Hinweisen, wie mögliche Schäden oder Risiken aus Entnahmeprojekten ermittelt, bewertet und reduziert werden können. Daher könne es zur Erfüllung der Norm schon ausreichen, zu Verhinderung negativer Auswirkungen nur geringfügige Maßnahmen zu ergreifen.

Der dritte Kritikpunkt betrifft Doppelzählungen bei der Nutzung von CO2-Zertifikaten, also den Fall, dass die einmal über Projekte reduzierte Menge an Treibhausgasen mehrmals in Klimabilanzen gutgeschrieben wird. In der Norm fehle es an Regelung, die das verhindern, etwa indem nur bestimmte Zertifikate zugelassen werden. Auch im Zusammenspiel von nationalen Minderungsverpflichtungen und unternehmenseigenen Maßnahmen könne es zu Doppelzählungen kommen. Dem trage die ISO 14068-1 nicht Rechnung.

In seinen Schlussfolgerungen empfiehlt das UBA Unternehmen, sich für glaubwürdige Aussagen zur eigenen THG-Neutralität nicht auf die Einhaltung der neuen Norm zu beschränken, sondern die Emissionen etwa im Einklang mit den Zielen des Pariser Klimaabkommens zu senken. Gerichten rät die Behörde davon ab, sich bei Urteilen zu Aussagen über Klimaneutralität ausschließlich auf die Erfüllung der Vorschriften aus der ISO 14068-1 zu stützen. An staatliche Institutionen geht der Aufruf, zusätzlich zur Norm gesetzliche Regelungen gegen irreführende Werbeaussagen zu treffen. Mit der Empowering Consumers for the Green Transition Directive und der Green Calims Directive sind zwei entsprechende Richtlinien auf EU-Ebene in Vorbereitung. Und von der Internationalen Normungsorganisation (ISO) erhofft sich das Umweltbundesamt die schnellstmögliche Überarbeitung der neuen Norm.

Thomas Pfnorr


Teil der Normenfamilie 14060

Die ISO 14068-1 ist Teil der Normenfamilie 14060 rund um die Quantifizierung, Überwachung, Berichterstattung, Validierung und Überprüfung von Treibhausgasemissionen und -abbau sowie Kohlenstoffneutralität. Dazu gehören auch die ISO 14064-1/2/3 (quantitativen Bestimmung und Berichterstattung von Treibhausgasemissionen und Entzug von Treibhausgasen auf Organisations- bzw. Projektebene), ISO 14065 (Grundsätze und Anforderungen an Validierungs- und Verifizierungsstellen von Umweltinformationen), ISO 14066 (Kompetenzanforderungen für Teams, Sachverständige und Gutachter) und ISO 14067 (Carbon Footprint von Produkten). Die Normen finden Anwendung bei Unternehmensentscheidungen, im Risikomanagement, bei freiwilligen Initiativen, Regulierungsprogrammen oder der Teilnahme an THG-Märkten mit dem Kauf und Verkauf von THG-Zertifikaten.


Mehr Infos im Internet

Die Norm (in englischer Sprache) kaufen.
Stellungnahme vom Umweltbundesamt
Norm definiert erstmals Treibhausgasneutralität
Foto/Grafik: Quelle: ISO 14068-1, eigene Abbildung und Übersetzung
Schritte zur THG­Neutralität nach ISO 14068­1
Norm definiert erstmals Treibhausgasneutralität
Foto/Grafik: Quelle: ISO 14068-1, eigene Abbildung und Übersetzung
Der in der ISO 14068-1 verwendete Begriff der Treibhausgasneutralität ist eine rechnerische Bilanz zwischen ausgestoßenen und der Atmosphäre entzogenen Treibhausgasen (THG), bezogen auf einen bestimmten Zeitraum, in der Regel ein Jahr. Berechnet werden auf der einen Seite Emissionen, die etwa bei der Herstellung eines Produktes, beim Transport und der Nutzung entstehen. Diese sollen so gering wie möglich sein, ihre Reduzierung hat in der Hierarchie der Norm absolute Priorität. Gegen diese Emissionen verrechnen lassen sich THG-Entnahmen, also Maßnahmen zur (Rück-)Bindung von Treibhausgasen. Die Emissionen, die dann noch übrig bleiben und sich (noch) nicht vermeiden lassen, können durch den Kauf von CO2-Zertifikaten (siehe BTH Heimtex 11/21) kompensiert werden. Dadurch wird rechnerisch die Bilanz ausgeglichen, das Produkt oder das Unternehmen ist THG-neutral.